Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe
Hoffnungen machst, Kleines«, sagte er hämisch. »Sie haben gelernt, nicht sofort an die Kehle zu gehen.« Und damit wandte er sich um und ging mit schnellen Schritten davon, bis er Sarn eingeholt hatte und sich dem Tempo des langsameren alten Mannes anpasste.
Für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Arri kämpfte mit aller Macht gegen die drohende Bewusstlosigkeit an (wobei sie sich fragte, warum sie das eigentlich tat, statt die gnädige Ohnmacht willkommen zu heißen, die das Schicksal ihr senden wollte), blinzelte die Tränen weg, so gut sie konnte, und sah den beiden ungleichen Männern einen Atemzug lang hinterher. Vielleicht hatte sie tatsächlich für einen Moment das Bewusstsein verloren, denn Jamu und der Schamane schienen plötzlich ein gutes Stück weiter weg als zuvor. So gut sie es aus der unnatürlichen Haltung heraus konnte, die ihr die straff gespannten Stricke aufzwangen, sah sie an sich herab und versuchte die Wunden zu erkennen, die Jamu ihr beigebracht hatte. Sie hatten nur im ersten Moment wirklich wehgetan. Der Schmerz verebbte bereits und war nicht annähernd so schlimm wie das, was in ihrer Schulter tobte. Sie bluteten heftig, allerdings nicht so stark, dass sie in kurzer Zeit daran sterben würde. Warum also hatte Jamu das getan? Die naheliegendste Antwort, auf die sie kam, war natürlich, dass es dem Mann einfach Freude bereitete, sie zu quälen, aber irgendetwas sagte ihr, dass das nicht die ganze Wahrheit war.
Das plötzlich lauter werdende Murmeln und Raunen der Menge drang wie das Geräusch eines plötzlichen Windstoßes im Blätterdach des Waldes an ihr Ohr und ließ sie aufsehen. Sarn und sein Begleiter hatten das Tor in der Umzäunung fast erreicht. Eine Anzahl Krieger beeilte sich, das Gatter zu öffnen, und Sarn beschleunigte auch tatsächlich seine Schritte, als dieselben Männer, die Arri vorhin hierher eskortiert hatten, nun eine schmale Gasse für ihren neuen Herren bildeten. Jamu hingegen blieb dicht vor dem Tor stehen, und die lebende Gasse in der Menschenmenge schloss sich auch nicht gleich wieder hinter Sarn.
Erneut ging eine Woge sichtbarer Bewegung, untermalt von einem dumpfen Chor murmelnder, erschrockener oder gar begeisterter Ausrufe durch die Menge, und Arri sah, dass Sarn ebenfalls stehen geblieben war, sich umgedreht hatte und nun einen Schritt zur Seite trat, um zwei weiteren Männern Platz zu machen, die mit raschen Schritten näher kamen. Im allerersten Moment konnte Arri sie nicht wirklich erkennen, denn ihre Augen waren noch immer voller Tränen, und die Gestalt des Hohepriesters versperrte ihr zusätzlich den direkten Blick auf sie. Dann aber sog sie so erschrocken die Luft ein, dass sie sich an ihrem eigenen Speichel verschluckte und qualvoll zu husten begann.
Jeder der beiden Männer führte einen gewaltigen, struppigen Hund mit sich. Die Tiere waren größer als neugeborene Kälber und so massig, dass sie fast wie kleine Bären aussahen. Selbst über die große Entfernung hinweg konnte Arri ihre gewaltigen Gebisse erkennen, und sie zerrten und rissen so ungeduldig an ihren Stricken, dass selbst die beiden kräftigen Männer, die sie hielten, alle Mühe zu haben schienen, sie zu bezwingen. Ihr wütendes Knurren und Kläffen übertönte das aufgeregte Murmeln und Rumoren der Zuschauermeng e .
Eine eisige Hand griff nach Arris Herzen und drückte es mit unbarmherziger Kraft zusammen. Für einen Moment bekam sie keine Luft mehr, und ihre Angst wurde so übermächtig, dass sie ihr abermals das Bewusstsein zu rauben drohte; alles begann sich um sie zu drehen, und von den Rändern ihres Gesichtsfeldes aus wuchsen graue Schatten rasch und lautlos heran. Diesmal wehrte sich Arri nicht gegen die Ohnmacht, sondern flehte sie nahezu herbei, und diesmal war es das Schicksal, das das Angebot ablehnte, das sie ihm machte. Ihr Herz hämmerte plötzlich wie wahnsinnig weiter, sie konnte wieder atmen, und auch die Nebel hoben sich wieder von ihren Augen.
Das also hatte Jamu gemeint, als er ihr zugeflüstert hatte, dass sie die Anweisung hätten, nicht sofort an die Kehle zu gehen.
Von allen Todesarten, die Arri sich ausgemalt hatte, war dies vielleicht nicht die Schlimmste, aber zweifellos die, vor der sie die größte Angst hatte. Sie hatte davon gehört, auch wenn es so lange her war, dass sie sich bis eben nicht einmal richtig daran erinnert hatte: ganz besonders wilde, blutrünstige Tiere, in deren Ahnenreihe sich eindeutig mehr Wölfe als zahme Hunde
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