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Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Titel: Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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sie kam nicht dazu, denn aus der Hütte des Blinden drang Lärm, und nur einen Augenblick später tastete sich der alte Mann mit zitternden Händen ins Freie. »Du bist ja immer noch da«, keifte er. Im ersten Moment war Arri verwirrt, denn die weit offen stehenden, glasigen Augen des Alten blickten genau in ihre Richtung, sodass sie dachte, die Worte gälten ihr, dann aber begriff sie, dass er mit ihrer Mutter sprach. »Du sollst weggehen, habe ich gesagt! Ich will nicht mit dir reden! Du hast mir schon genug angetan! Geh!«
    Arris Mutter setzte zu einer Antwort an, und man konnte ihr ansehen, wie scharf sie ausfallen würde - aber dann beließ sie es bei einem bedauernden Achselzucken und gab Arri gleichzeitig mit einer besänftigenden Handbewegung zu verstehen, dass sie schweigen sollte. Der blinde Mann konnte die Geste nicht sehen, aber er schien sie dennoch irgendwie gespürt zu haben, denn seine erloschenen Augen suchten in Arris Richtung und fixierten dann einen Punkt ein gutes Stück neben ihr. »Ist da noch jemand?«, schnappte er. »Wer ist da? Was willst du? Hast du deine Tochter mitgebracht, damit ihr euch gemeinsam über mich lustig machen könnt?«
    »Niemand macht sich über dich lustig, Achk«, sagte Lea sanft. »Ich will dir helfen. Ich meine es ernst. Denk einfach ein wenig über meinen Vorschlag nach. Ich komme heute Abend zurück und bringe dir etwas zu essen. Dann kannst du mir immer noch antworten.«
    »Du kannst mir etwas zu essen bringen, denn das bist du mir schuldig«, keifte der blinde Mann, »aber es bleibt bei meiner Antwort. Und jetzt geh, nimm dein Balg und verschwinde!«
    Arri wollte etwas sagen, aber ihre Mutter wiederholte die hastige, abwehrende Handbewegung und schüttelte darüber hinaus den Kopf. Der blinde Mann keifte weiter mit schriller Stimme hinter ihnen her, als sie sich abwandten und nebeneinander zur Hütte gingen, aber nun kamen nur noch sinnlos brabbelnde Laute über seine Lippen. Was immer er gerade gemeint haben mochte, der klare Moment war vorbei, und Arri spürte, dass es vollkommen zwecklos wäre, ihre Mutter um eine Erklärung zu bitten. Auch das war etwas, was sie zwar nicht erst jetzt, in diesem Moment, aber tatsächlich zum ersten Mal in ganzer Tragweite begriff: Seit dem Tag von Nors Besuch war ihre Mutter immer verschlossener und abwesender geworden, auch ihr gegenüber.
    Das, was sie nachts gemeinsam im Wald taten und beredeten, änderte nichts daran, ganz im Gegenteil; je weiter ihre Mutter die Türen der Vergangenheit öffnete und je tiefer der Einblick wurde, den sie Arri in ihr früheres Leben gewährte, desto verschlossener und kälter schien sie tagsüber zu werden. Manchmal hatte Arri das Gefühl, es tatsächlich mit zwei vollkommen unterschiedlichen Menschen zu tun zu haben, die sich mit jedem Tag, der verging, noch weiter voneinander entfernten; als wäre die eine Lea, die, an deren Seite sie nun ging, nicht mit dem einverstanden, was die andere sie nachts lehrte und ihr riet. Natürlich war dieser Gedanke verrückt, aber seit dem Tag, an dem der mächtige Hohepriester zu ihnen gekommen war, war überhaupt nichts mehr so, wie es einmal gewesen war.
    »Es geht Kron also schon besser«, nahm Lea das unterbrochene Gespräch wieder auf, während sie - langsamer werdend - den Pfad hinunterging. Der blinde Mann schrie immer noch hinter ihnen her, und Lea hatte die Stimme ganz leicht erhoben, wie um ihn zu übertönen - obwohl das nicht wirklich nötig war. Vielmehr hatte Arri das Gefühl, dass sie sie fast krampfhaft davon abhalten wollte, eine bestimmte Frage zu stellen. »Und? Wie gefällt dir das?«
    Arri verstand nicht wirklich, was ihre Mutter wissen wollte, und sah sie nur verwirrt an.
    »Wie fühlst du dich dabei?«, meinte Lea. »Immerhin hattest du einen nicht geringen Anteil an seiner Genesung.«
    »Das Meiste hast du doch getan«, erwiderte Arri.
    »Das wird Kron anders sehen, fürchte ich«, seufzte ihre Mutter. »Und ohne deine Hilfe wäre er bestimmt nicht so bald wieder zu Kräften gekommen.« Sie sah Arri abschätzend an. »Was ist es für ein Gefühl?«
    »Was für ein Gefühl?«
    »Einem Menschen zu helfen«, erklärte Lea, hob aber auch zugleich abwehrend die Hand, als Arri etwas erwidern wollte. »Ich meine: einem Menschen wirklich zu helfen. Einem Menschen wie Kron, dem du eigentlich nichts schuldig bist und an dessen Schicksal dich auch keine Schuld trifft.«
    Arri verstand immer weniger, worauf ihre Mutter eigentlich hinauswollte,

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