Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe
verflucht hatte!
Und wie unwichtig er doch letztlich war. Sie konnte sich kaum noch an seinen Namen, geschweige denn an sein Gesicht erinnern. Gewiss war er schon längst tot. Wenn es nach ihr ginge, sollte er irgendwo vermodern, ohne einen angemessenen Abschied, und damit ohne die Aussicht, den gefährlichen Weg ins Totenreich zu überstehen.
Ganz anders als Dragosz. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er seinen angemessenen Platz unter den Stammvätern fand.
Aber die böse Schwester dieses Wunsches war der Gedanke an Surkija, die im Reich der Toten bereits auf ihren Gemahl wartete. Arri bekam die Vorstellung einfach nicht aus dem Kopf, dass es Dragosz ganz recht wäre, sich wieder mit seiner ersten Frau vereinen zu können. Dann würde es nicht mehr so lange dauern, bis er sie ganz vergessen hatte …
»Dragosz«, murmelte sie. »Wo bist du? Kannst du mich hören?«
Es war nur ein sinnloses, verstörtes Gebrabbel, das wusste sie selber. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sie immer wieder solche Sätze vor sich hinmurmelte.
»Bleibe mein Mann«, flehte sie. »Bleib bei mir, Liebster! Verlass mich nicht!«
Die letzten Tage waren fürchterlich gewesen. Zakaans vom Alter gebeugter und von ausufernder Selbstgeißlung geschundener Rücken schien in Flammen zu stehen, und seine Knochen fühlten sich so morsch wie die verrotteten Äste einer Pappel an. Es waren aber weniger die körperlichen Strapazen, die ihm zusetzten, und auch nicht die Folge des freiwilligen Fastens, das er sich auferlegt hatte, als vielmehr die Sorge um Lexz und die anderen.
Sie hätten schon längst zurück sein müssen.
Und das war nicht das Einzige, was ihn quälte. Beinahe schlimmer war noch, dass es ihm nach der Begegnung mit der Todessyre nicht mehr gelungen war, irgendeinen Zugang zu der Welt jenseits der greifbaren Wirklichkeit zu finden. Selten zuvor war der Kontakt zu den Vorvätern so lange und so vollständig gerissen. Dafür schien es ihm aber, als zöge mit den dunklen Regenwolken am Horizont auch noch etwas anderes auf, das ihnen weitaus gefährlicher werden konnte als das heftigste Unwetter. Etwas, das mit den Geheimnissen der Stammväter zu tun hatte, mit ihrer Lebensweise und mit ihrer Art, ihre Hinterlassenschaft für ihre Nachfahren zu regeln. Und etwas, das mit dem Unmut der Ahnen zu tun hatte, die nun sahen, wie sich ihr Volk selbst aufrieb, wie es nicht einmal in größter Not in der Lage war, zusammenzuhalten und alles zu tun, was nötig war, um ihr Erbe zu bewahren.
So wurde es Zeit, dass er etwas unternahm. Und zwar auf die einzige Weise, die ihm jetzt noch möglich war: indem er nämlich den Steinkreis endgültig zu einem magischen Ring schließen ließ und ein Erweckungsritual durchführte. Vielleicht gelang es ihm mit einer geeigneten Beschwörung ja sogar, sich mit dem Geist seines Bruders Abdurezak zu verbinden und sich mit ihm über das auszutauschen, was sie tun konnten, um die Katastrophe einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den beiden verfeindeten Gruppen zu verhindern.
Er wünschte sich nichts mehr als das. Wenn er Abdurezak wenigstens spüren, seine Anwesenheit wahrnehmen könnte – immerhin konnte er doch gar nicht weit entfernt sein. Aber noch nicht einmal das war ihm im Augenblick vergönnt. Und das war seltsam. Selbst während der Wanderung hatte er sich Abdurezak oft so nahe gefühlt, als bräuchte er bloß die Hand auszustrecken, um ihn zu berühren.
Doch jetzt schien die geheimnisvolle Verbindung zwischen ihnen wie abgerissen zu sein. Was hatte das zu bedeuten? Hoffentlich war mit Abdurezak nichts geschehen.
Er seufzte. Dass alles viel langsamer voranging, als er erwartet hatte, machte es nicht gerade einfacher. Und da der Steinkreis noch seiner Vollendung harrte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu üben und darauf zu hoffen, dass wenigstens Lexz und die anderen wieder auftauchten.
Als er Schritte hörte, die auf ihn zuzuhalten schienen, schrak er aus seiner Versenkung auf. Konnte es sein, dass …
Nein. Er beugte sich ein Stück vor, um besser hören zu können, und ein scharfer Schmerz durchjagte seinen Rücken. Es war nur eine kleine Dummheit, allerdings eine von viel zu vielen in der letzten Zeit.
Natürlich war das nicht Lexz. Die Schritte klangen noch leichter als die von Ragoks Sohn, es waren womöglich die eines Kindes. Und damit wusste der Schamane auch, wer es denn war, der da zu ihm kam. Und warum.
Es gab nur noch einen
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