Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe
wieder ganz das Kind, das nicht erwachsen werden wollte. »Aber das ist nicht das, was ich meine. Du weißt, was ich von Taru halte.«
»Ja«, antwortete Arri. »Nämlich nichts.«
Isana sah hoch, und Arri entdeckte die tiefe Traurigkeit in ihren Augen. »Nein, ich halte sogar eine ganze Menge von ihm. Taru ist stark, ein wahrer Krieger. Aber er ist auch noch ein richtiger Kindskopf. Das ist gefährlich.«
»Das klingt …«
»Etwas merkwürdig aus meinem Mund, weil auch ich dir noch wie ein Kind vorkomme?« Isana schüttelte den Kopf. »Nein, das bin ich nicht mehr. Und selbst wenn, dann würde das keine Rolle spielen. Taru ist ganz anders als ich. Er kennt keine Grenzen. Er glaubt schon jetzt, alles erreichen zu können. Schlimmer noch: Er will Dragosz’ Nachfolge antreten, und das sofort – koste es, was es wolle.«
Arri sah sie an, und sie begriff nicht – aber auch nur, weil sie es nicht begreifen wollte. In Wirklichkeit kroch ihr ein Grauen den Rücken hinauf, das nicht ganz unerwartet kam. Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie es tief in ihrem Herzen schon immer gewusst hatte. Taru betrachtete sich seit Kindesbeinen als Dragosz’ Nachfolger, und er hatte mehr als nur einmal auf ziemlich hässliche Weise seiner Hoffnung Ausdruck gegeben, dass – auch wenn Arri eine Tochter gebar – sein Erbrecht damit dennoch erhalten bliebe.
»Dem jüngsten Bruder steht die Herrschaft über die Raker zu«, fuhr Isana fort, und plötzlich lag eine Härte in ihrer Stimme, wie Arri sie noch nie zuvor an ihr vernommen hatte. »Jedem Bruder, auf den das zutrifft. Auch dem Sohn einer Heilerin, die als Giftmischerin verurteilt wird.«
Arri starrte sie wortlos an. »Ich weiß, was du meinst«, begann sie schließlich. »Taru will sichergehen, dass ihm niemand Dragosz’ Nachfolge streitig machen kann.«
»Ja, ich meine, dass er seinem verhassten Halbbruder etwas antun wird, nur damit dieser ihm später nicht seine Pläne durchkreuzen kann!« Isana nickte grimmig. »So etwas soll früher auch schon mal vorgekommen sein, wenn man den alten Geschichten glaubt, die Abdurezak am Feuer der Alten erzählt. Und er hasst dich aus tiefstem Herzen, Arri. Was meinst du wohl, welche Gefühle er deinem Sohn entgegenbringt?«
Arri schüttelte den Kopf. »Du kannst mir glauben, dass ich schon mehr als einmal darüber nachgedacht habe. Aber so ohne Weiteres wird das Taru nicht möglich sein. Das würden ihm Abdurezak und der Ältestenrat niemals durchgehen lassen.«
»Ihm vielleicht nicht«, gab Isana zu. »Aber was ist, wenn Kyrill einen Unfall hat? Wenn ihn jemand fallen lässt, vielleicht sogar direkt ins Wasser, vielleicht auch auf harten Boden? Oder wenn ihm jemand wie dieser Idiot Rar – ganz aus Versehen – so lange etwas auf seinen Kopf fallen lässt, bis er tot ist?«
Arri öffnete den Mund, um Isanas Einwand als pure Phantasie abzuweisen, aber dann schloss sie ihn wieder. Das Schlimme war ja, dass dieses zarte Mädchen mit den zornig blitzenden Augen vollkommen recht hatte. Sie hatte ja selbst von den alten Geschichten gehört, die der Schamane in der langen Tradition der Raker an sein Volk weitergab, manchmal an einem lauen Sommerabend, aber meist, wenn sie sich in der Kälte des Winters um die wenigen Feuer scharten, die ihnen dann Wärme spendeten.
Es waren Geschichten, die das Leben um die Erbfolge gesponnen hatte, Geschichten von starken Kriegern, die Brüder waren und sich doch hassten, weil sie einander die Rolle des alleinigen Herrschers nicht zubilligten. Geschichten wie die von Dragosz, einem Herrscher also, der unerwartet früh von den Göttern abgerufen worden war, und einem mehr oder weniger offenen Kampf, der daraufhin unter seinen männlichen Nachkommen entbrannt war.
»Das Erbrecht …«, begann Arri.
»Ist eindeutig, ich weiß«, Isana nickte heftig. »Aber denk an den Streit zwischen Ragok und Dragosz, der unser Volk entzweit hat …«
»Und in deren Mittelpunkt Surkija stand«, erinnerte sie Arri.
Isana wischte den Einwand mit einer ärgerlichen Handbewegung beiseite. »Du glaubst, es ginge dabei hauptsächlich um Liebe? Du meinst, weil Dragosz seinem Bruder die zugesprochene Frau wegnahm …«
»Die zufällig die Schwester deiner Mutter war …«
»Die zufällig die Frau war, die mich wie ihr eigenes Kind aufgezogen hat, ja!« Isana ballte die Faust und erhob sie, als wolle sie am liebsten zuschlagen. »Es ging um Macht, Arri! Öffne doch die Augen! Es geht immer um Macht, wenn
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