Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe
Sie mussten weiter nach Norden, in die Richtung, in der irgendwann einmal das große Meer kam, da waren sie sich sicher. Irgendwo zwischen ihnen und dem Meer musste dann die Seenplatte beginnen, zu der Dragosz in der Hoffnung geflohen war, ihnen damit dauerhaft entgehen zu können. Aber da kannte er Ragok schlecht. Die Alte Geierkralle würde ihre Klauen in sein Fleisch schlagen und ihn für das büßen lassen, was er mit dem Verrat an seinem eigenen Volk ausgelöst hatte: den Tod so vieler Menschen während der Wanderung.
Und auch den seines jüngsten Sohnes!
Der Blick nach oben gab Lexz’ Wut neue Nahrung. Regen, das war alles, was sie gebraucht hätten. Der Schamane hatte alles getan, was er hatte tun können, jeden Zauber beschworen, jeden Flehspruch tausendmal gesprochen, sich selbst gegeißelt, bis sein Rücken eine einzige blutige Masse war. Anschließend hatte Zakaan die großzügigen Opfergaben der Gemeinschaft in aller Feierlichkeit dem heiligen Feuer übergeben, und sie alle zusammen hatten die Göttin der Fruchtbarkeit angefleht, sie doch endlich zu erlösen. Sie hatten das Feuer umtanzt, in dem ihr letztes Schwein als Opfergabe an Asad und Ygdra in sich zusammenschmolz. Das Fett war ins Feuer getropft, das brennende Fleisch hatte seinen starken Geruch verströmt, und sie waren fast wahnsinnig vor Hunger geworden …
Und während dieser ganzen Zeit waren die Regenwolken hierhin gezogen, und hatten ihre schwere Last über diesem Teil des Landes abgeliefert? Hatte die mächtige Göttin der Fruchtbarkeit von Anfang an nichts anderes vorgehabt, als den Haufen verzweifelter, hungernder Menschen zu verhöhnen, die sie inständig um das lebenspendende Nass angefleht hatten?
Lexz ballte die Hände so heftig zu Fäusten, dass die Knöchel weiß hervorstachen. Dragosz. Es war alles Dragosz’ Schuld. Er hatte etwas Schreckliches getan, und Asad hatte sein Volk für diesen Frevel bestraft.
Aber warum hatten die Götter dann nicht gleich Dragosz und die Abtrünnigen zerschmettert, die sich auf seine Seite geschlagen hatten? Diese eine Frage hatte Lexz seinem Vater so oft hingeschleudert, bis er eine Antwort bekommen hatte: »Weil sie uns prüfen wollen, mein Sohn. Weil nicht sie es sein werden, die Dragosz richten, sondern wir. Wir werden Dragosz und seine Brut finden, und sie werden die Strafe erhalten, die sie verdienen. Und das nicht nur für Dragosz’ Verrat – sondern für jeden einzelnen Toten, den wir auf der großen Wanderung zu beklagen hatten.«
»Und für Nakurs Tod!«
»Ja.« Ragoks Stimme hatte wie das Knurren eines angreifenden Höhlenlöwen geklungen. »Er wird für Nakurs Tod bezahlen – da kannst du sicher sein! Wir werden ihn und seine Brut aus Urutark vertreiben. Und dann werden wir dort leben und das Gesetz unserer Stammväter erfüllen. Und noch unsere Kindeskinder werden von der großen Wanderung in das Land der Vorväter erzählen. Unsere Heldentaten werden auf ewig leben!«
Das hatte Ragok der Bezwinger gesagt, ohne wissen zu können, ob Dragosz Urutark tatsächlich vor ihnen erreicht hatte – und ohne das üppige Grün und die wild wuchernden Pflanzen und Triebe hier zu sehen, die Lexz wie blanker Hohn erschienen, je tiefer er in den Urwald eindrang. Ragok konnte sagen, was er wollte, er konnte von künftigen Heldentaten erzählen, über die ihre Nachfahren einmal schwärmen mochten – das alles war doch nur eine billige Entschuldigung für die unfassbare Ungerechtigkeit, die ihnen widerfuhr! Nicht Ragok hatte den alten Schwur zwischen den Brüdern gebrochen, sondern Dragosz, der alte Bock, der seine Hände nicht von der Auserwählten seines Bruders hatte lassen können.
Ragok und Surkija waren einander seit Ewigkeiten versprochen gewesen, der wagemutige junge Krieger und die Tochter der Heilerin. Doch dann hatte sich Dragosz an Surkija herangemacht und sie so lange umgarnt, bis sie seinem Werben schließlich nachgegeben hatte. Wie hatte er nur glauben können, dass die Götter diesen Frevel so einfach hinnahmen?
Lexz’ Hand öffnete und schloss sich mehrmals hintereinander, wie im Krampf. Die Blätter und Nadeln der Bäume hier waren satt und grün, ganz anders als in den übrigen Teilen des Landes, durch das ihr beschwerlicher Weg sie geführt hatte, wo jeder einzelne Baum, jeder Strauch und jede Pflanze Spuren der großen Dürre aufwies, wenn nicht ohnehin schon alles verdorrt und vertrocknet war. Der Anblick wurde von Atemzug zu Atemzug unerträglicher für ihn. Heftige
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