Die Himmelsscheibe 02 - Die Kriegerin der Himmelsscheibe
»Und nun geh, Isana!«
»Isana«, brachte Amara hervor, und Isana wollte sich ihr schon zuwenden. »Aber warum ist denn Isana hier?« Sie brach ab, als sie von einem Hustenkrampf geschüttelt wurde, und fuhr danach mühsam fort: »Warum ist denn Arianrhod nicht bei mir? Warum hat sie nur diese Kleine geschickt?«
Diese Kleine? Isana hätte beinahe laut aufgeschrien. Sie war doch mehr als nur diese Kleine !
Mit einem enttäuschten Laut wandte sie sich ab und eilte aus der Hütte.
Arri spürte, dass die Müdigkeit wie eine Feuchtigkeit in ihr hochkroch, die nach einem heftigen Regenguss Einzug in die Kleidung hielt. Trotzdem wäre sie nicht in der Lage gewesen, auch nur für einen Moment die Augen zu schließen. Wenn Dragosz noch leben würde … Der Tag nach dem Fest hatte der erste Tag eines neuen Lebens sein sollen. Um das zu besiegeln, hatten sie sich heute beide mit Abdurezak treffen wollen, um endlich die Dinge zu besprechen, die sie viel zu lange schon vor sich hergeschoben hatten. Wahrscheinlich hätte Dragosz sie gerade jetzt am Arm berührt und gesagt: »Komm nun. Abdurezak wartet bestimmt schon auf uns.«
Am Abend vor dem Fest hatte ihr Dragosz gestanden, dass er Abdurezak von der Himmelsscheibe erzählt hatte. Arri hatte das zuerst als Vertrauensbruch betrachtet, aber Dragosz hatte ihr klargemacht, dass sie gar keine andere Chance hatten, als den Ältesten in das Geheimnis der Scheibe einzuweihen.
»Du brauchst dich nicht aufzuregen«, hatte Dragosz sie zu beruhigen versucht. »Er wusste ohnehin schon davon.«
»Von der Himmelsscheibe?« Arri hatte betroffen den Kopf geschüttelt. »Aber wie denn?«
»Von seinem Bruder«, hatte Dragosz erklärt. »Von Zakaan.« Als sie das nicht verstanden hatte, hatte er erklärt, dass er dem Schamanen alles erzählt hatte, was Arris Mutter einst Dragosz anvertraut hatte. Dabei waren Dinge gewesen, die selbst Arri nicht gewusst hatte.
Und jetzt war das alles so unwichtig. Die Himmelsscheibe, das Heiligtum, das sie mit den Monolithen hatten aufbauen wollen – war nichts weiter als feuchter Schnee, der vom Wind weggewirbelt wurde.
Ihr Blick wanderte wieder zu Dragosz, und dort blieb er haften. Sie fiel in einen Zustand zwischen Wachen und Schlaf, in denen Szenen aus ihrem gemeinsamen Leben mit ihrem Liebsten ineinander verschmolzen und sie mit sich trugen. Vielleicht war sie in diesem Augenblick dem Tod sogar näher als dem Leben, vielleicht war es auch nur ein Zustand, in den man kurz vor einem Zusammenbruch hineingleitet, bevor die sanften Schatten der Ohnmacht sie in einen gnädigen Schlaf mitnahmen.
Bis sie das Plätschern von Wasser hörte.
Dann ging alles so schnell, dass ihr gar keine Zeit zum Reagieren blieb.
Es war wohl weniger das Plätschern, das sie aus ihrem Dämmerzustand riss, obwohl es gleichermaßen kraftvoll und bedrohlich klang, wie ihr erst mit einiger Verspätung bewusst wurde. Vielmehr war es ein leise gezischter Befehl, und dann die Erschütterung der Holzplanken unter ihr, die sie aufrüttelten. Sie versuchte die Benommenheit wegzublinzeln und richtete sich aus ihrer so in sich versunkenen Haltung auf …
Und sah, wie sich jemand mit nacktem Oberkörper aus dem See heraus hochzog und zu ihr kam.
Sie schreckte so fürchterlich zusammen, dass ein scharfer Schmerz augenblicklich durch ihren Nacken jagte. Es war Dragosz, der sich da zu ihr nach oben zog und sie dabei so unverschämt lebendig angrinste, als wäre jeder Gedanke an seinen Tod nur ein lächerlicher Spuk gewesen.
»Damit hast du wohl nicht gerechnet, du verdammte Drude, oder?«
Arris Herz machte einen gefährlichen Hüpfer, und bevor es wieder zu schlagen begann, jagten die unterschiedlichsten Gedanken durch ihren Kopf. Keiner von ihnen ergab aber irgendeinen Sinn.
Dragosz zog sich nun gänzlich hoch und schüttelte seinen Kopf. Unzählige Tropfen sprangen von seiner langen Mähne, und nicht wenige davon landeten auf Arris Gesicht.
Sie war fassungslos. Das war nicht Dragosz, natürlich nicht. Die Ähnlichkeit mit ihrem Liebsten verschwand endgültig, als sie in diese kalten, triumphierenden Augen blickte.
So hatte Dragosz sie nie angesehen. Aber Taru.
»Was …«, sie musste sich räuspern, »was willst du?«
Tarus Grinsen wurde noch breiter, und da erkannte Arri, dass Dragosz’ Sohn nicht allein gekommen war. Ein zweiter junger Mann zog sich zu ihr hoch. Er hatte beeindruckende Muskeln und brutale Gesichtszüge: eine Mischung, die Arri noch nie gefallen
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