Die Hintertreppe zum Quantensprung
potenzielle Biografen mit schwierigen Fragen, die Paulis Leben und Person betreffen, umgehen, wenn sie außerhalb der Physik liegen. Dieses ängstliche Ausweichen hat bislang jeden ernsthaften Versuch verhindert, eine Biografie über diesen Physiker zu schreiben. Natürlich gibt es genügend wissenschaftliche Spannungen in Paulis Leben, doch die erregenden inneren Dimensionen seines Denkens und Fühlens müssen deshalb nicht auf alle Zeiten so verborgen bleiben, wie sie es zu seinen Lebzeiten waren.
In Zürich nutzt Pauli die Tatsache, dass damals auch der berühmte Psychologe Carl Gustav Jung in der Stadt wohnt, und begibt sich zu ihm in Behandlung. Wie dabei konkret vorgegangen wurde, ist bislang nirgendwo genau zu erfahren. Es scheint aber, dass die beiden wechselseitig voneinander profitiert haben. Jung nutzt Paulis Träume, um seine Theorie der nächtlichen Gehirntätigkeit zu entwickeln, und Pauli selbst ist darum bemüht, etwas von der Gefühlskälte abzulegen, die ihn vor allem unter Kollegen berüchtigt gemacht und ihm in Verbindung mit seiner meist zutreffenden, aber oft unerbittlichen Kritik den Namen »der fürchterliche Pauli« eintragen hat. Man könnte diesen Charakterzug allerdings auch positiv verstehen: Gerade durch ihn wird Pauli zum »Gewissen der Physik«, weil er klarer und schneller als andere zwischen Sinn oder Unsinn eines mehr oder weniger »verrückten« Vorschlags unterscheiden kann. Sein Urteil ist dabei oft sehr hart, etwa dann, wenn er den Vorschlag eines Physikers folgendermaßen abfertigt: »Das ist nicht richtig, was Sie sagen, es ist noch nicht einmal falsch.«
Das kleine neutrale Teilchen
Pauli bietet offenbar sowohl auf der Tag- als auch auf der Nachtseite der Wissenschaft Stoff für Geist und Seele. Schauen wir zunächst auf die Tagseite des wissenschaftlichen Diskurses. Hier wagt sich Pauli 1930 erneut mit einem kühnen Vorschlag in die Arena physikalischen Denkens. Zu einer Zeit, als nur Elektronen und Protonen als Bestandteile der Atome bekannt sind – das Neutron wird erst im Jahre 1932 entdeckt –, kommt Pauli zu einem wichtigen Schluss in Hinblick auf Beobachtungen, die im Zusammenhang mit dem radioaktiven Betazerfall von Materie gemacht worden sind. Ihm fällt auf bzw. ein, dass die unterschiedlichen Energien, die von den radioaktiven Atomen freigesetzt werden, nur zu erklären sind, wenn man dabei ein bislang unbekanntes Teilchen mit in die Rechnung aufnimmt. Pauli behauptet deshalb, dass das hypothetische Gebilde elektrisch neutral sei, und bietet außerdem eine Wette darüber an, dass eine Wechselwirkung des Gebildes mit anderen Teilchen der Materie so gering sei, dass ein experimenteller Nachweis niemals gelingen werde.
Ein starkes Stück, was Pauli da bietet, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen fällt die Sicherheit der theoretischen Vorhersage auf, die er sogar gegen die damalige Einstellung Bohrs durchhielt, der für kurze Zeit bereit war, die durchgängige Gültigkeit des Energiesatzes einer statistischen Kontinuität zu opfern. Und zum anderen lässt sich fast so etwas wie eine Geringschätzung erkennen, was den Beitrag angeht, den technische Möglichkeiten bzw. experimentelle Daten bei Einsichten der Physik liefern.
Was die Wette anbelangt, so hat Pauli sie verloren, denn die Existenz der von ihm postulierten und heute nach einem Vorschlag von Enrico Fermi unter dem Namen »Neutrino« bekannten Teilchens konnte sehr wohl nachgewiesen werden. Dies geschah im Jahre 1956, also noch zu Lebzeiten Paulis. Und was die Kühnheit der Neutrino-Hypothese angeht, so basierte sie auf der Grundüberzeugung, dass es im Reich der physikalischen Gesetze symmetrisch zugeht: Aus der Symmetrie der Naturgesetze folgt mit mathematischer Sicherheit die Gültigkeit von Erhaltungssätzen, und hieran hielt Pauli unerschütterlich fest. Er glaubte felsenfest an die Erhaltung der Energie – auch beim Betazerfall. Als die Messungen hartnäckig zeigten, dass ein Teil der Gesamtenergie verloren zu gehen schien, war für Pauli sicher, dass es etwas geben musste, das ebendiesen Teil der Energie aufgenommen hatte, aber in den Experimenten unbemerkt geblieben war – das Neutrino.
Als übrigens ebenfalls noch 1956 in weitergehenden Experimenten zum Neutrino und anderen Elementarteilchen entdeckt wurde, dass es die ganz große Symmetrie doch nicht gibt, war Pauli wirklich verblüfft. Er tröstete sich aber rasch mit dem hübschen Gedanken, dass Gott eben »nur ein Linkshänder«
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