Die Hintertreppe zum Quantensprung
pollenfreie) Insel Helgoland, wo er in den zwei Wochen seines Aufenthalts kaum schlief. Ein Drittel seiner Zeit – so hat später Heisenbergs Freund und Student Carl Friedrich von Weizsäcker erzählt – lernte Heisenberg Gedichte aus dem Westöstlichen Diwan von Goethe auswendig, ein zweites Drittel verbrachte Heisenberg mit Kletterpartien auf den Felsen der roten Insel, und im letzten Drittel der Zeit bemühte er sich, eine neue Mechanik der Atome zu formulieren, die von der Existenz des Quantums der Wirkung ausging, das Max Planck entdeckt hatte. Über den entscheidenden Moment der Erkenntnis hat Heisenberg in seiner Autobiografi e Der Teil und das Ganze berichtet. Er ging dabei nach einem philosophischen und einem physikalischen Grundsatz vor. Philosophisch hatte sich Heisenberg festgelegt, bei der Beschreibung der Atome nur Eigenschaften zu verwenden, die experimentell zugänglich waren. Das heißt, in seiner Theorie durfte zum Beispiel von den Frequenzen des Lichts, das Atome aussenden, die Rede sein, denn sie konnte man messen; es durfte aber nicht um Bahnen von Elektronen gehen, da sie einer Beobachtung unzugänglich blieben. Physikalisch richtete sich Heisenbergs ganze Aufmerksamkeit auf die Gültigkeit des Energiesatzes, und sein unbeirrtes Festhalten an dieser fast heiligen Säule der klassischen Physik erlaubte es ihm eines Abends, »die mir vorschwebende Mathematik«, mit der er die Gesetze der Atome ausdrücken wollte, »widerspruchsfrei und konsistent« zu entwickeln. Auf dem Papier vor ihm nimmt plötzlich zum ersten Mal das Form an, was heute als Quantenmechanik an den Universitäten gelehrt wird und was sich als unendlich erfolgreich und folgenreich erwiesen hat. Als Heisenberg die mathematische Gestalt der neuen Atomphysik selbst wahrnimmt, passiert Folgendes: »Im ersten Moment war ich zutiefst erschrocken. Ich hatte das Gefühl, durch die Oberfl äche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen, und es wurde mir fast schwindlig bei dem Gedanken, dass ich nun dieser Fülle von mathematischen Strukturen nachgehen sollte, die die Natur dort unten vor mir ausgebreitet hatte. Ich war so erregt, dass ich an Schlaf nicht denken konnte.«
Nüchtern gesagt hatte Heisenberg bei diesem Erlebnis entdeckt, dass sich die grundlegenden Gleichungen für Atome und ihre Bausteine nicht formulieren lassen, wenn man wie in der klassischen Physik vorgeht und zum Beispiel die physikalische Größen Energie und Impuls als Zahlen behandelt. Heisenberg sieht vielmehr, dass sich die Welt des Mikrokosmos nur erfassen lässt, wenn man die physikalischen Größen in kompliziertere Gebilde übersetzt und ihnen zwei Dimensionen zugesteht, die in Form von Spalten und Säulen angeordnet werden. Solche Darstellungen werden von Experten mit dem viel verwendeten Begriff »Matrizen« bezeichnet. Das Besondere ist nun, dass den Mathematikern damals längst bekannt war, was Matrizen sind und wie man mit ihnen auf ihrem Gebiet umgeht, dass aber Heisenberg selbst diese Gebilde nicht kannte, bis seine Fantasie sie ihm offenbarte.
Was Heisenberg auf Helgoland gelingt, entspricht dem Auffinden einer neuen Form, etwas, das im Bereich der Kunst als kreativer Akt bezeichnet wird. Mit anderen Worten, bei der Entdeckung der Quantenmechanik ist es so kreativ zugegangen wie bei der Schaffung eines Kunstwerks. Heisenberg bringt eine neue Physik auf dieselbe Weise hervor, mit der ein Künstler einen neuen Malstil entwirft. Daher ist es kein Wunder, dass er dabei auf die Schönheit der Natur zu sprechen kommt. Ihr tritt er gegenüber, und er erkennt die Wahrheit.
Der Weg nach Kopenhagen
Nachdem Heisenberg dieser Schritt zu einem neuen wissenschaftlichen Stil gelungen war, kehrte er nach Göttingen zurück, um die gewonnenen mathematischen Strukturen gemeinsam mit seinem Lehrer Max Born und dessen Assistenten Pascual Jordan zu veröffentlichen, die sich beide mit Matrizen auskannten und dem intuitiv Geschauten die strenge Formulierung gaben, die heute in den Lehrbüchern zu finden ist. Dabei entstand die sogenannte Drei-Männer-Arbeit, die zum Vorbild vieler wissenschaftlicher Publikationen geworden ist.
Göttingen spielt in der Geschichte der Quantenmechanik eine große Rolle. Heisenberg, der eigentlich bei Arnold Sommerfeld in München Physik studierte, war 1922 zum ersten Mal in diese Universitätsstadt gekommen, um die Vorlesungen zum damals aktuellen Stand
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