Die Hintertreppe zum Quantensprung
der nicht zuletzt Kernforschung betrieben werden sollte. Landau wollte die 120 Kilometer mit dem Auto zurücklegen, das von einem Studenten gesteuert wurde, aber die beiden sind nicht weit gekommen und auf eisglatter Straße mit einem Lastwagen zusammengestoßen. Während der Student starb, lag der berühmteste Physiker seines Landes im Koma, weil die Parteispitze unter Führung von Nikita Chruschtschow den Befehl ausgegeben hatte, Landau mit allen Mitteln am Leben zu halten. »Dau darf nicht sterben«, riefen sich die vielen Ärzte, Schwestern, Schüler und Kollegen zu, die sein Krankenlager versorgten und wahrscheinlich zu einem Gott im Himmel gebetet hätten, wenn dies in der UdSSR nicht verpönt gewesen wäre. Und tatsächlich – nach drei Monaten kam Landau wieder zu Bewusstsein, aber er war nicht mehr der Mensch, den man vorher gekannt hatte. Die Fähigkeiten, die ihn berühmt gemacht hatten – seine unvorstellbar rasche Auffassungsgabe, die er mit einem universellen Interesse und der souveränen Gabe koppelte, selbst schwierigsten Themen einfache und bedenkenswerte Gesichtspunkte abzugewinnen –, zeigten sich nicht einmal mehr im Ansatz. Dafür peinigten ihn Schmerzen, die ihn bis zu seinem (zweiten) Tod im Jahre 1968 nicht mehr verlassen sollten. Es müssen mühe- und qualvolle sechs Jahre gewesen sein, die Landau tapfer ertragen hat.
Frühe Stationen im Lebensweg
Lew Landau wurde in Baku geboren, der heutigen Hauptstadt Aserbaidschans, in dem damals ein Zentrum der sowjetischen Erdölindustrie zu finden war. Landaus Vater arbeitete dort als Ingenieur, und seine Mutter verfasste als Ärztin wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet der Physiologie. Der junge Lew Dawidowitsch ließ früh Züge eines mathematisch talentierten Wunderkinds erkennen, sodass er das Gymnasium mit 13 Jahren abschließen konnte. Das allerdings war in der weitverbreiteten jüdischen Familie Landau nicht ganz so ungewöhnlich, wie es klingt. Ihr entstammen nämlich zahlreiche berühmte Rabbiner und Gelehrte, unter anderem der deutsche Mathematiker Edmund Landau.
Lew schreibt sich 1922 an der Universität von Baku ein, wechselt aber bereits zwei Jahre später – er ist jetzt immerhin 16 Jahre alt – an die physikalische Abteilung der Universität in Leningrad, wo er mit der theoretischen Physik in Berührung kommt, die ihn sofort in den Bann schlägt. Landau zeigt sich unmittelbar von der »unglaublichen Schönheit der Allgemeinen Relativitätstheorie« beeindruckt, und wird sein Leben lang die Ansicht äußern, dass solch ein Entzücken als Merkmal eines jeden Physikers zu gelten habe. Bald tauchen die Arbeiten von Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger in Leningrad auf, die ihn geradezu in Ekstase versetzen. Die Theorie der Quantensprünge bringt ihm nicht nur den äußersten Genuss wissenschaftlicher Schönheit, sondern gibt ihm auch ein Empfi nden für die Kraft, die dem menschlichen Geist innewohnt und die ihn – und uns – befähigt, selbst die Dinge zu verstehen, die man sich nicht mehr auf schlichte Weise veranschaulichen kann. Zu ihnen zählt Landau das Prinzip der Unbestimmtheit ebenso wie die Krümmung der vierdimensionalen Raumzeit, mit deren Hilfe Einstein den Kosmos deutet.
1927 schließt Landau seine Studien ab und wird Mitarbeiter – »Aspirant« im Jargon der Sowjetbürokratie – am Physikalisch-Technischen Institut der Universität Leningrad. Aus dieser Zeit stammen seine ersten Publikationen: über das Licht, das Moleküle, die aus zwei Atomen bestehen, aussenden können, und über die Dämpfung, die Energie erfahren kann, wenn sie sich in Medien ausbreitet. In diesen Texten stellt Landau zusammen mit seinen Einsichten zugleich ein neues Werkzeug vor, mit dem theoretische Physiker fortan rechnen können. Es ist in der Fachwelt als Dichtematrix bekannt und handelt von der Wahrscheinlichkeit, mit der der Quantenzustand eines Systems durch sogenannte reine Zustände erfasst werden kann. Für Letztere lassen sich die ziemlich einfachen Gleichungen aufstellen, die wir den Pionieren der neuen Physik verdanken.
Im Ausland
Biografische Berichte stellen Landau als einen zwar hochtalentierten Wissenschaftler vor, sie weisen aber auch auf seine fast krankhafte Schüchternheit im Umgang mit anderen Menschen hin. So braucht er einige Jahre und viel Selbstdisziplin, um zu der lebensfrohen Person zu werden, als die er international galt.
1929 wendet sich das sowjetische Volkskommissariat für Volksbildung an Landau
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