Die Hintertreppe zum Quantensprung
Einzige war, der sich damit herumschlagen durfte. Alle anderen Physiker, die etwa von Kernphysik verstanden, waren im Rahmen des legendären Manhattan-Projektes mit der Entwicklung von Atomwaffen beschäftigt. Davon jedoch war Gamow als gebürtiger Russe ausgeschlossen. So forschte er alleine weiter. Nach und nach ließen seine theoretischen Bemühungen erkennen, dass das Universums anfänglich keinerlei Atome enthielt, sondern eine Art heiße Suppe aus Neutronen, Protonen und Elektronen gewesen sein muss. Als Gamow nach einem Namen für diesen Urzustand suchte, stieß er in einem Lexikon auf den alten mittelenglischen Ausdruck ylem , der dort definiert war als »Urstoff, aus dem die Elemente gebildet wurden«. Genau diesen Urstoff versuchte Gamow zu erkunden, aber die Physik erwies sich als sperrig. Es ging schließlich um unvorstellbare Dichten von Materie mit gigantisch hohen Temperaturen, und außerdem wusste niemand so recht, wie man in dieses Chaos die Dimension der Zeit einführen sollte, die man doch messen können muss, was wiederum die Existenz von Atomen (und deren periodischem Verhalten) voraussetzt.
In der erwähnten Alpher-Bethe-Gamow-Arbeit von 1948 meinte Gamow der Lösung näher gekommen zu sein, was ihn, den ewigen Witzbold, veranlasste, eine eigene Schöpfungsgeschichte zu entwerfen. Diese ließ er mit dem Satz beginnen: »Am Anfang schuf Gott Strahlung und Ylem, und Ylem war ohne Form noch Zahl, und die Nukleonen rasten wie verrückt über die Tiefe hinweg.« Dem selbstbewussten Auftakt folgte eine eher ernüchternde Abhandlung. Denn tatsächlich konnten die Autoren nur ein wenig mit der Ursuppe spielen, ohne in der Lage zu sein, Kritikern Rede und Antwort zu stehen. Sie sahen sich dem Vorwurf ausgesetzt, ein Flickwerk der Art geliefert zu haben, wie wir es bei Ptolemäus finden, der eine falsche Grundannahme (die Erde befindet sich im Zentrum des Universums) durch unsinnige Rechnungen, sogenannte Epizyklen, aufgewertet hat. Als dann Anfang der 1950er-Jahre Messungen auch noch zu zeigen schienen, dass ein Urknalluniversum jünger sein musste als die Sterne, die es hervorgebracht hatte, warf Gamow den Bettel hin und kümmerte sich – siehe oben – fortan um die Gene und ihren Code. Die Kosmologen selbst wandten sich rasch von Denkmustern dieser Art ab, und niemand in ihren Reihen beachtete einen Vorschlag, den Gamow mit seinem Kollegen Alpher und dem Kosmologen Robert Herman (1914–1997) in den 1940er-Jahren als letzten Versuch unterbreitet hatte, um sein Konzept eines Urknalls zu testen. Das Trio hatte seinen theoretischen Modellen entnommen, dass das ursprünglich extrem heiße Ylem, für das Physiker heute den besser defi nierten Ausdruck Plasma verwenden, den Kosmos mit einer Strahlung angefüllt haben muss, die bis heute noch nicht ganz abgeklungen sein könnte und sich irgendwo noch im Hintergrund befinden müsste. Das damals gültige Bild vom Kosmos änderte sich schlagartig, als diese Strahlung tatsächlich 1964 gefunden wurde. Fortan durfte man an einen Urknall als Anfang der Welt glauben, und wir tun es immer noch. Dabei sollten wir wissen, was die Wissenschaft genau meint, wenn sie das Wort »Urknall« benutzt. Doch das geht nur, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass sich die physikalische Wirklichkeit grundlegend ändert, wenn wir uns demselben rechnerisch nähern. Welche Physik im Urknall gilt, können wir nicht wissen, weil sowohl die Relativitätstheorie von Einstein als auch die Quantenphysik eine Rolle spielen, und deren Kombination – etwa als Quantengravitation – entzieht sich der Wissenschaft bislang. Die Wissenschaft nennt diesen völlig unerforschten (und derzeit unerforschlichen) Abschnitt der kosmischen Entstehung die »Weiße Epoche«. Mit diesem Begriff lässt sich ausdrücken, was das Bild von Gamows Urknall besagt: »Urknall« heißt nicht, dass die Welt in einem Punkt begonnen hat, sondern nur, dass der Kosmos aus der Weißen Epoche mit einer Bewegung herausgekommen ist, die den Eindruck erweckt, als hätte dieser kurz zuvor – sehr kurz zuvor – in einem Punkt sein Leben begonnen. Mit anderen Worten, das Fragen geht weiter.
8
Lew D. Landau (1908–1968)
----
Streben nach Einfachheit und Ordnung
Das Ende von Lew D. Landau, den seine Freunde und Verehrer gerne »Dau« nannten, muss schrecklich gewesen sein. Er machte sich am 7. Januar 1962 auf dem Weg von Moskau nach Dubna, das von der sowjetischen Führung als Stadt der Wissenschaft erkoren worden war und in
Weitere Kostenlose Bücher