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Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis

Titel: Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Ladenbesitzern diese Spiegelfassaden empfohlen. Erst drehte der flanierende Narziss den Kopf, um sich zu bewundern, dann fiel sein Blick wie zufällig auf die Schuhe, Gesichtscremes und Anzüge, die dahinter waren, dann entdeckte er wieder sich, wie sein eigenes Bild diese Dinge bereits überlagerte, und schließlich ging er in den Laden und kaufte.
    Es sei denn, er sah aus wie Franz Pawlak. Der kleine Mann lachte grimmig auf.
    Das Gehen tat weh, aber das verschaffte ihm nur masochistische Genugtuung. Nachdem die Wunde nicht aufgehört
hatte zu bluten, war er letzte Nacht mit dem Taxi in die Notaufnahme gefahren und hatte sie nähen lassen. Der Arzt hatte keine weiteren Fragen gestellt. Wahrscheinlich war er Schlimmeres gewohnt als einen volltrunkenen Mann, der versucht hatte, sich mit einem abgeschlagenen Flaschenhals selbst zu kastrieren, und dabei nur seinen Oberschenkel erwischt hatte.
    Franz hatte die Friedrichstadtpassagen erreicht. Die meisten der Ladenflächen standen noch leer, aber einige der Geschäftsketten, die bereits im Westen zwanzig Filialen unterhielten, hatten für alle Fälle auch hier einen Ableger angesiedelt. Franz schaute kurz nach rechts und links, ob ihn jemand beobachtete, und schlüpfte durch die automatischen Schiebetüren.
     
    »UDE SETHEN, MENELAE, THEOI MAKARES LELATHONTO -«
    Mit steifem Rücken saß sie auf dem Kanapee, die Knie zusammengepresst, und hielt das vergilbte Buch in ihrem Schoß. Dám-da-da, dám-da-da, dám-da-da, dám-da-da, dám-da-da, dá-dá. Als sei es der selbstverständlichste Singsang der Welt, liefen ihr die griechischen Hexameter von den Lippen.
    »- ATHANATOI, PROTE DE DIOS THYGATER AGELEIE -«
    »Ageleie«, wiederholte der alte Homberg hingerissen, »Ageleie, das muss etwas Herrliches bedeuten. Ist es der Name einer Blume? Ja, bestimmt ist es der Name einer wunderschönen Blume.« Er schaute sie verzückt an.
    Sie blickte nur kurz von ihrem Buch auf.
    »- HE TOI PROSTHE STASA BELOS ECHEPEUKES
    AMYNEN.«
    »Es ist so wunderbar, wie Sie das lesen. Auch wenn ich es nicht verstehe, könnte ich Ihnen die ganze Nacht zuhören.« Er seufzte selig.
    »- HE DE TOSON MEN EERGEN APO CHROOS, HOS HOTE
    METER -«

    »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich neben Sie setzte? Ein klein wenig Griechisch habe ich seinerzeit auf dem Gymnasium ja auch gelernt. Ich würde zu gern sehen, ob ich wenigstens den Buchstaben noch folgen kann. Ja?« Freudezitternd stand er aus seinem schweren Ohrensessel auf.
    »Hoppla. Oooh.« Er lachte. »Mein Gott, bin ich heute ungeschickt.« Er hatte sich fallen lassen, zu knapp neben sie, sodass sein rechter Oberschenkel auf ihrem linken gelandet und er quer über das Kanapee gekippt war.
    »- PAIDOS EERGE MYIAN, HOTH’ HEDEI LEXETAI
    HYPNO -«
    Sie hörte nicht auf zu lesen. Ein fader Geruch strömte in ihre Nase.
    Er rappelte sich auf. »Ah, das ist schön. Das ist schön«, seufzte er und beugte sich über das Buch in ihrem Schoß.
    »- AUTE D’ AUT’ ITHUNEN, HOTHI ZOSTEROS OCHEES -«
    Hinter ihrem Rücken tastete sich sein Arm langsam die Sofalehne entlang. »Das hier, das da vorne, das ist doch ein Xi?« Er rückte noch etwas näher. »Oder nennt man dieses Zeichen nicht Xi?« Er stach mit einem Finger auf das Papier. »O-O-OXY-OXYBEN - nein - OXYBELES« , entzifferte er, »dieses Wort muss OXYBELES heißen, habe ich Recht?« Er zappelte vor Aufregung. Ein feiner Speichelfaden rann aus seinem Mund.
    Während sie immer weiter las, fuhr ihre Rechte in die große weiße Lacktasche.
    »An welcher Stelle sind Sie denn«, quengelte er, »zeigen Sie mir doch, an welcher Stelle Sie gerade sind.«
    Sie hielt inne. »Das kann ich Ihnen nicht zeigen«, sagte sie leise. »Sie halten Ihre Hand darüber.«
    Etwas an ihrem Tonfall ließ ihn wegrücken.
    »Aber?« Er lächelte sie verwirrt an. »Wie können Sie es dann lesen, wenn es unter meiner Hand ist?«
    Ihre Augen brannten, als sie von dem Buch aufblickte.

    »Stürmend traf das Geschoss den festanliegenden Leibgurt -«
     
    rezitierte sie ihm auf Deutsch ins Gesicht.
     
    »Sieh, und hinein in den Gurt, den künstlichen, bohrte die Spitze.
    Auch in das Kunstgeschmeide des Harnisches drang sie geheftet -«
     
    Der alte Mann zog die Hand von der Buchseite zurück. Wort für Wort entstanden die Verse, die sie ihm entgegenschleuderte.
     
    »- Und nun ritzte der Pfeil die obere Haut des Atreiden -«
     
    Ihr rechter Arm machte eine leichte Bewegung. Sämtliche Muskeln waren gespannt.
    »Mein

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