Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis
Höhe auf Betonboden prallt, wurde Kyra wach. Es dauerte noch einige Sekunden, bis der Schock ihre Fingerspitzen erreicht hatte und ihre Hand von dem feuchten Ding zurückzuckte.
Ihr Herz trommelwirbelte, als wolle es eine Anstellung in der Zirkuskapelle. Kaum traute Kyra sich umzudrehen.
In der anderen Hälfte ihres Bettes lag ein Mensch. Sein entblößter Rücken glänzte vor Schweiß. Sie biss ins Kopfkissen, um den Schrei zu ersticken. Es dauerte einige weitere Trommelwirbel, bis sie sich bereit fühlte, dem unbekannten Bettobjekt über die Schulter zu schauen. Es war der hübsche Kellner.
Kyra ließ sich ins Kissen zurücksinken. Was um alles in der Welt machte der Kellnerknabe in ihrem Bett? Das letzte, an das sie sich erinnern konnte, war, dass sie ihn gestern Abend nach zwei Flaschen Cabernet und einer albernen Diskussion über Männer und Frauen vor die Tür gesetzt hatte. Warum lag er jetzt neben ihr?
Verzweifelt kramte sie in ihrer Erinnerung. Alles hörte an der Stelle auf, an der sie ihm im Treppenhaus hinterhergebrüllt hatte, er solle sich sein Praktikum in den Arsch schieben.
Himmel, was hatte sie vergangene Nacht angestellt? War sie dem Knaben hinterhergerannt und hatte ihn an seinen dunkelbraunen Locken in ihr Bett geschleift? Hatte sie ihn auf den Knien ihres Herzens um einen Fick angefleht? War er aus freien Stücken zurückgekehrt, um ihr zu sagen, dass sie die Liebe seines Lebens war? Irgendwo in ihrem Scheißhirnkasten musste die Antwort doch gespeichert sein.
Sie blickte sich im Zimmer um. Die Beweislage war klar. Es sei denn, der Junge hatte die hübsche Angewohnheit, sich jeden Abend die Gummimütze überzustülpen und in den Schlaf zu wichsen.
Ihr erster Sex in diesem Jahr. Und sie konnte sich an nichts erinnern. Ein flaues Gefühl machte sich in ihr breit. Letzte Woche das Ohr, jetzt der Siebenundneunziger Home-Porno. Wie viele Filmrisse durfte eine Frau von einunddreißig Jahren produzieren, um noch als zurechnungsfähig durchzugehen?
Während sie fieberhaft in ihrem Schädel herumtappte, betrachtete sie den Fremdkörper an ihrer Seite. Sein Rücken hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen. Was hatte sie mit diesem Mann gemacht? Ein Schweißrinnsal sickerte zwischen seinen Schulterblättern hinunter. Es roch. Abgestanden. Nach Lust und Leben. Das Laken neben ihm war feucht.
Sie spürte das Würgen rechtzeitig, um die Hand vor den Mund zu schlagen und ins Bad zu rennen.
»Verdammt.« Das Entsetzen ließ Kriminalkommissar Törner, ohnehin kein Blut-Strotz, weiter erblassen. »Verdammt.«
Der Körper, der in der Mitte des Zimmers lag, hatte nichts Menschliches mehr an sich. Aus der Küche drangen die spitzen Schreie der Haushälterin, die vor einer Stunde den alten Mann in seinem Blutbad entdeckt hatte.
»Gott.« Törner massierte sich mit beiden Händen das Gesicht. Warum konnte ihm das hier nicht sein verdammter Chef abnehmen? Warum fand diese sinnlose Tagung über Verbrechensprävention ausgerechnet heute statt?
Die Männer vom Erkennungsdienst hatten mit der Arbeit begonnen. Vor dem roten Hintergrund wirkten sie in ihren weißen Schutzanzügen wie Schneeflocken. Das Bild erinnerte ihn an den Kinderfilm, den er neulich mit seiner Tochter gesehen hatte, wo die ganzen Zellen, Hormone und was den menschlichen Körper sonst noch antrieb, mit Menschen dargestellt worden waren. Die Männer vom Erkennungsdienst waren die weißen Blutkörperchen, die in dem Kreislauf geschäftig zirkulierten. Und das einzige rote Blutkörperchen lag am Boden, aus der Bahn geworfen, zertreten, im eigenen Saft verendet.
Ludwig Törner rieb sich die Augen. Er musste aufpassen, dass er sich nicht selbst aus der Bahn werfen ließ.
Er ging zu Dollitzer, dem Rechtsmediziner, der neben der Leiche kniete und gerade das langfühlerige Thermometer aus ihrem After zog. Wenn man am Tatort Gefahr lief, die Nerven zu verlieren, war es immer gut, sich an den Rechtsmediziner zu halten. In Gegenwart des Rechtsmediziners wurde noch die entstellteste Leiche zu etwas, das sein Grauen verlor, etwas, über das man vernünftig reden konnte.
Törner räusperte sich. »Können Sie schon etwas sagen?«
»Leichenliegezeit zwischen achtzehn und vierundzwanzig Stunden, Todeseintritt wahrscheinlich durch Verbluten. Möglicherweise auch Luftembolie durch eröffnete Gefäße am Hals«, antwortete Dollitzer, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen. Er war der älteste amtierende Rechtsmediziner in Berlin. Törner
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