Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis
fallen. Und heben. Und fallen. Prima. Prima Pinocchio. Sie konnte im Zimmer umherlaufen. Sie konnte sich bücken, unter den Couchtisch schauen, hinter den Fernseher gucken, im Schrank herumwühlen -
Fuchs, du hast die Gans gestohlen, gib sie wieder her, gib sie wieder her...
Ein Geräusch an der Tür ließ sie aufhorchen. Sie legte den Kopf in den Nacken und jaulte. Er kam, er kam zurück. Auf allen vieren schoss sie durch den Flur. Krachte mit blutverschmierten Knien gegen die Tür. Wartete. Winselte. Niemand kam heim.
Mit hängendem Kopf schlich sie zurück. Noch nie hatte sie ihn genauer betrachtet. Lebende Menschen betrachtete man nicht genauer. Jetzt war er schön. Schöner, als er jemals hätte sein können. Sie schnüffelte.
Roch gut. Mami, roch er gut. Hatte er schon immer so gut
gerochen? Nein. Geschwitzt hatte er. Im Büro geschwitzt. In der Oper geschwitzt. Im Barbarossa geschwitzt. Im Winter geschwitzt. Im Sommer geschwitzt. Im - aber jetzt nicht mehr. Nie mehr Schweiß.
Sie stieß mit der Nase gegen seine Brust. Hart. Schwarzes Hemd, Hemdbrust, blutsteif wie frisch gebügelt. Aber schön.
Sie zerrte daran. Der linke Ärmel klemmte. Obwohl der Arm gar nicht starr war. Puppig schlaff lag er da. Sie hob ihn ein paar Mal an und ließ ihn wieder fallen.
Ene mene muh, und kalt bist du. Kalt bist du noch lange nicht, sag mir erst, wie alt du bist.
Wie schön wäre es gewesen, ihm jetzt zwei Finger an die Wange zu legen und zu fragen: Franz, lebst du noch? Hallo? Hörst du mich? Aber Wange war ja nicht mehr. Sie hielt ihr Ohr an seine Brust. Still. Still. Still.
Endlich gelang es ihr, die Manschetten über die Hände zu zerren. Schöne Hände hatte er. Schöne Hände und so schöne schmale Finger.
Hast du schon immer so schöne schmale Finger gehabt, Franz?
Es war ihr nie aufgefallen. War auch nicht gut möglich, dass so ein kleiner runder Mann so schöne schmale Finger hatte. Der Tod hatte ihm die Finger geschenkt. Die Hand gereicht und die schönen schmalen Finger geschenkt.
Sie warf sein Hemd und T-Shirt in die Ecke, zog seine schwarzen Schuhe aus, zog seine schwarzen Socken aus, zog ihre schwarzen Schuhe aus. Sie berührte seine Füße mit ihren.
So viel gelaufen, ihr armen Zehen. Aber jetzt dürft ihr ruhen.
Mit der Andacht, die der ersten Nacht gebührte, streckte sie sich neben ihm aus.
Franz, deine Hand! Gib mir deine Hand!
Zärtlich küsste sie die Finger. Die dunklen Ränder unter
den Nägeln. Das Blut. Sie küsste die Fingerkuppen, leckte eine nach der anderen, bis die Trauer nur noch ein ferner Nachgeschmack auf ihrer Zunge war.
Wir werden glücklich sein.
Sie nahm den Zeigefinger, feucht vom eigenen Speichel. Alles war so still. So kalt. So schön. Sie schloss die Augen.
Wollen wir, Geliebter? Wollen wir?
Sanft lag sein Finger in ihrer Hand. Sie lächelte. Und fasste ihn fester. Und führte ihn sicher ans Ziel.
V
Da war dieser Nagel im Boden gewesen. Irgendwo im Boden musste da ein Nagel gewesen sein.
Kyra starrte nach vorn. So viel Asphalt. Und so viele Streifen auf dem Asphalt. Was für eine Verschwendung.
Ihre Hände am Lenkrad zitterten. Nein: Ihre Hände zitterten nicht. Das Lenkrad zitterte. Und dabei war es doch ein Sportwagen. War es normal, dass bei einem Sportwagen das Lenkrad zitterte? Vielleicht war mit dem Wagen etwas nicht in Ordnung.
Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos blendeten sie. Licht konnte sie heute Nacht nicht mehr gut ertragen.
Wenn nur dieser Nagel im Boden nicht gewesen wäre. Am liebsten wäre sie aufgestanden. Aber das ging ja nicht. Am Steuer. Vielleicht war der Nagel rostig gewesen. Vielleicht hatte sich die Wunde entzündet.
Ohne zu blinken, zog sie den Wagen auf die Standspur hinüber und bremste scharf. Die Autos hinter ihr hupten. Die Giulia schleuderte ein bisschen. Sicher war mit dem Wagen etwas nicht in Ordnung. Es war doch nicht normal, dass ein Wagen beim Bremsen schleuderte.
Endlich stand sie. Autos schossen an ihr vorbei. Sie musste aussteigen. Und nachsehen, ob sich die Wunde entzündet hatte. Sie öffnete die Tür. Und spürte einen harten Luftstoß. Schon wieder ein Auto. Was wollten die ganzen Autos nachts auf der Avus? Sie humpelte auf die Beifahrerseite in den Windschatten. Sie zog die Hosen herunter und versuchte, ihren Arsch zu inspizieren. Es ging nicht. Verzweifelt fasste sie sich an die Stelle, wo sie den Schmerz vermutete.
Wenn es geblutet hatte, war es jetzt getrocknet. Aber sie musste doch sehen, was dort
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