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Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis

Titel: Die Hirnkoenigin - Roman - Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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»Du hast gesehen, dass es Notwehr war. Mein Gott, du hast gesehen, dass es Notwehr war.«

    Sie warf die Pistole, die ihr der Zuhälter verkauft hatte, weit von sich und eilte zu der Verblutenden.
    Isabelle Konrad stieß ein paar wimmernde Laute aus.
    »So tu doch was«, herrschte Jenny Mayer den erstarrten Mann hinter dem Schreibtisch an. »Mein Gott, ruf doch endlich einen Krankenwagen.«
    Die Konrad-Tochter bewegte sich. Mühsam hob sie den Kopf. Sie bewegte die Lippen, als wolle sie etwas sagen.
    Jenny Mayer kniete sich neben sie.
    »Wissen Sie, wo Kyra ist?« Die Stimme war kaum zu hören.
    Jenny Mayer beugte sich tiefer über sie. »Sie müssen lauter sprechen, damit ich Sie verstehen kann.«
    »Wissen Sie, wo Kyra ist?«
    Mit Jennys Hilfe gelang es Isabelle, sich zu setzen.
    »Wissen Sie, wo Kyra ist?«
    Sie machte Anstalten aufzustehen.
    Jenny Mayer fasste sie vorsichtig am Arm. »Mein Gott, ich wollte das nicht. Ich habe das nicht gewollt. Bleiben Sie liegen. Der Krankenwagen ist schon unterwegs.«
    »Ich muss Kyra finden.« Isabelle befreite sich von der fremden Hand und rappelte sich auf. Das Blut lief ihr aus Mund, Nase, Bauch.
    »Ich habe das nicht gewollt«, schluchzte Jenny Mayer jetzt. »Glauben Sie mir. Ich habe das nicht gewollt.«
    Isabelle Konrad wankte auf den Flur hinaus. Sie musste Kyra finden. Aber in welchem Stock war sie hier? Weil, Kyra war ja im dritten, und wenn sie jetzt im fünften war, dann musste sie -
    Sie konnte nicht mehr denken. Das Blut quoll ihr zu heftig aus dem Mund. Sie machte einige Schritte in Richtung Fahrstuhl. Auch die Knie wollten nicht mehr.
    Der Marmor, auf den sie der Länge nach schlug, war kühl. Angenehm kühl. Sie ruderte mit den Armen über den Stein.

    Wie schön, dass ihr Vater in einer Zeitung arbeitete, die sich Marmorboden leisten konnte. Nicht jede hatte einen Vater, der in einer Zeitung mit Marmorfußboden arbeitete.
    Sie lächelte.
    Wo war der Revolver? Sie musste ihn Vater zurückgeben. Vater würde schimpfen, wenn er entdeckte, dass sie sein bestes Stück verloren hatte.
    Mit letzter Kraft drehte sie sich auf den Rücken.
    »Scheiße«, flüsterte sie, und das Blut in ihrem Hals gluckste, »Scheiße, Mann, wir sind echt ne Scheißfamilie.«
     
    Es war so still. So wunderstill. Der Schlüsselbund, mit dem Kyra unten die Haustür, oben die Wohnung aufgeschlossen hatte, fiel zu Boden. Sie hörte es nicht. Sie hörte gar nichts. Hinschauen. Hinschauen. Nichts als hinschauen.
    Noch sah sie nicht wirklich, worauf ihre Augen starrten. Das Auge frisst alles, das Hirn ist feige. Den ganzen Abend hatte es sich nicht ausmalen wollen, was es finden würde. Und jetzt, wo Wirklichkeit Vorstellung unnütz gemacht hatte, begann es zu malen und zu malen und auszuschmücken und wollte gar nicht mehr aufhören auszumalen.
    Es tat so weh. Himmel, wie konnte etwas, das einfach nur stumm dalag, so wehtun? Es brauchte doch nur ein Messer oder eine Schere. Warum kam denn keiner mit der Kneifzange und machte Schluss? Sehnerv links, Sehnerv rechts, zweimal knips und aus das Licht!
    Kyras Lider waren starr, als hätte sie sich heute Abend mit Sekundenkleber geschminkt. Sie versuchte, ihre Hände zu heben, um sich die Augen selber auszukratzen. Nicht einmal ein müdes Zucken war den Händen zu entlocken.
    Kyra brüllte, bis ihr Schwarz vor Augen wurde. Endlich schwarz. Endlich Fallbeil. Aber die Gnade dauerte nur kurz. Aus dem Schwarz kroch das Bild hervor, leuchtete drinnen im Kopf noch greller. Wieder sehen, hinsehen, immer nur hinsehen, bis die Augäpfel von selbst platzten.

    Der geköpfte Freund. Der zu Kopfzeiten verschmähte Freund.
    Kyra blinzelte. Aber war das Blut und Fleisch, das dort lag, überhaupt noch der Freund? Denn was war der Freund - wenn nicht Kopf?
    Der Gedanke machte sie gurgeln. Franz hatte sie getäuscht. Er war nie Kopf gewesen. Denn wäre er Kopf gewesen, läge er jetzt nicht ohne da. Ein Kopf ließ sich nicht köpfen. Was also war er gewesen? Hatte er überhaupt jemals einen Kopf gehabt? Hatte sie die ganze Zeit einen Kopflosen - ja denn: geliebt?
    Eisschauer grieselten durch ihren Körper. Geliebt. Ja. Sie hatte ihn geliebt. Ihre Zähne klapperten. Sie schlang die Arme fest um sich selbst. Zusammenhalten, was nicht mehr zusammenzuhalten war.
    Plötzlich wurde es ganz still. In ihr drinnen. Sie konnte sich wieder frei bewegen. Die Lider klappten mühelos auf und zu. Klipp. Klapp. Schwingdeckel. Die Hände folgten wieder. Sie ließen sich heben. Und

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