Die historischen Romane
Wohnung gegangen wäre und sich ohne zu zögern in mein Bett gelegt hätte, dann doch wohl deshalb, weil er sich beim Nachhausekommen daran erinnert hatte, dass er ich war, und wusste, dass er bei mir ebenso gut schlafen konnte wie bei sich, da wir ja ein und dieselbe Person waren. Also war Dalla Piccola schlafen gegangen im Bewusstsein, Simonini zu sein, während Simonini am nächsten Morgen erwachte, ohne zu wissen, dass er Dalla Piccola war. Mit anderen Worten, erst verliert Dalla Piccola sein Gedächtnis, dann findet er es wieder, schläft darüber ein und gibt seinen Gedächtnisverlust an Simonini weiter.
Gedächtnisverlust… Dieses Wort, das einen Ausfall des Erinnerungsvermögens bezeichnet, hat mir so etwas wie eine Bresche im Nebel der vergessenen Zeit geöffnet. Über Fälle von Gedächtnisverlust sprach ich beim Essen im Magny, vor mehr als zehn Jahren. Dort war es, wo ich mit Bourru und Burot darüber sprach, mit Du Maurier und mit diesem österreichischen Doktor.
3.
Chez Magny
25. März 1897, frühmorgens
Chez Magny… Ich weiß, dass ich ein Liebhaber der guten Küche bin, und nach dem, was ich von jenem Restaurant in der Rue de la Contrescarpe-Dauphine in Erinnerung habe, zahlte man dort nicht mehr als zehn Francs pro Kopf, und die Qualität entsprach dem Preis. Aber man kann ja nicht jeden Tag ins Foyot gehen. Früher gingen viele ins Magny, um von weitem berühmte Schriftsteller wie Gautier oder Flaubert zu bewundern, und noch früher jenen schwindsüchtigen polnischen Pianisten, der von einer Entarteten ausgehalten wurde, die in Hosen herumlief. Ich hatte eines Abends mal reingeschaut und war sofort wieder gegangen. Künstler sind unerträglich, auch von weitem, sie blicken dauernd umher, um zu sehen, ob man sie erkennt.
Dann hatten die »Großen« das Magny verlassen und waren ins Brébant-Vachette am Boulevard Poissonnière umgezogen, wo man besser aß und mehr zahlte, aber carmina dant panem , wie man sieht. Und als das Magny sich sozusagen purifiziert hatte, bin ich seit Anfang der achtziger Jahre öfter hingegangen.
Ich hatte gesehen, dass Wissenschaftler dort aßen, zum Beispiel berühmte Chemiker wie Berthelot und viele Ärzte von der Salpêtrière. Das Hospital liegt nicht gerade um die Ecke, aber vielleicht fanden es diese Mediziner schön, einen kurzen Spaziergang durch das Quartier Latin zu machen, anstatt in den riesigen gargottes zu essen, wohin die Angehörigen der Kranken gehen. Unterhaltungen von Ärzten sind interessant, weil sie immer die Schwächen eines anderen betreffen, und im Magny redeten alle sehr laut, um den Lärm zu übertönen, so dass ein gespitztes Ohr immer etwas Interessantes zu hören bekam. Lauschen heißt nicht, etwas Bestimmtes erfahren zu wollen. Alles, auch das scheinbar Belanglose, kann sich eines Tages als nützlich erweisen. Worauf es ankommt, ist, etwas zu wissen, von dem die anderen nicht wissen, dass man es weiß.
Während die Literaten und Künstler immer an großen Tischen zusammensaßen, speisten die Wissenschaftler lieber allein, wie ich. Doch wenn man ein paarmal am Nachbartisch gesessen hat, macht man allmählich Bekanntschaft. Meine erste Bekanntschaft war Dr. Du Maurier, ein hässliches Individuum, bei dem man sich fragte, wie ein Psychiater (das war er) mit einem so abstoßenden Gesicht seinen Patienten Vertrauen einflößen konnte. Es war das Neid und Missgunst ausdrückende Gesicht eines Mannes, der sich als ewigen Zweiten sah. Tatsächlich leitete er eine kleine Nervenklinik in Vincennes, aber er wusste nur zu gut, dass sein Institut nie den Ruhm und die Einnahmen der Klinik des berühmteren Dr. Blanche genießen würde – auch wenn er sarkastisch knurrte, vor dreißig Jahren sei dort ein gewisser Nerval eingeliefert worden (seines Erachtens ein bedeutender Dichter), den die Pflege in der hochberühmten Klinik von Blanche zum Selbstmord getrieben habe.
Zwei andere Tischgenossen, mit denen ich gute Beziehungen angeknüpft hatte, waren die Doktoren Bourru und Burot, zwei einzigartige Typen, die wie Zwillingsbrüder aussahen, immer in Schwarz gekleidet mit fast dem gleichen Anzugsschnitt, den gleichen schwarzen Schnauzern und glattrasiertem Kinn, die Hemdkragen immer leicht schmutzig, was nicht zu vermeiden war, denn in Paris waren sie auf der Reise, ihren normalen Dienst taten sie an der École de Médecine von Rochefort und kamen nur jeden Monat für ein paar Tage in die Hauptstadt, um die Experimente von Charcot zu
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