Die historischen Romane
das Aedificium von innen ist.«
»Und wie?«
»Lass mich nachdenken, es kann nicht so schwierig sein...«
»Und was ist mit der Orientierungsmethode, von der Ihr gestern spracht? Wolltet Ihr nicht die Sache mit den drei Kohlezeichen an jedem Durchgang probieren?«
»Nein, Adson, je länger ich darüber nachdenke, desto weniger überzeugt sie mich. Vielleicht habe ich die Regel nicht mehr vollständig im Kopf, vielleicht braucht man auch, um sich in einem Labyrinth zurechtzufinden, am Ausgang eine hilfreiche Ariadne, die den Faden in der Hand hält. Aber so lange Fäden gibt es nicht. Und wenn es sie gäbe, hieße das wohl (denn Fabeln sagen ja oft die Wahrheit), dass man nur mit äußerer Hilfe aus einem Labyrinth herauskommt – jedenfalls solange die Gesetze draußen mit denen drinnen identisch sind... Hör zu, Adson, wir werden die mathematischen Wissenschaften anwenden. Denn nur in den mathematischen Wissenschaften, sagt Averroës, fallen die Dinge, die uns bekannt sind, mit den im absoluten Sinne bekannten Dingen zusammen.«
»Also lasst Ihr doch universale Erkenntnisse gelten!«
»Die mathematischen Erkenntnisse sind Sätze, die unser Verstand so konstruiert hat, dass sie stets funktionieren, als wären sie wahr, sei’s weil sie uns angeboren sind, sei’s weil die Mathematik vor den anderen Wissenschaften erfunden wurde.
Und die Bibliothek ist von einem menschlichen Geist konstruiert worden, der mathematisch dachte, denn ohne Mathematik errichtet man kein Labyrinth. Infolgedessen geht es darum, unsere mathematischen Sätze mit denen des Konstrukteurs zu vergleichen, und aus diesem Vergleich kann sich wissenschaftliche Erkenntnis ergeben, denn es handelt sich um eine Wissenschaft von Termini über Termini. Und im Übrigen hör jetzt endlich auf, mich in metaphysische Diskussionen zu verwickeln! Welcher Teufel reitet dich heute? Geh lieber rasch, du hast bessere Augen als ich, und besorg dir ein Pergament oder eine Tafel und etwas zum Schreiben... Gut, ich sehe, du hast es bei dir, bravo! Wir werden jetzt nämlich einen Spaziergang um das Aedificium machen, solange es noch hell genug ist.«
Es war noch hell genug, und so machten wir einen langen Abendspaziergang unter den Mauern des Aedificiums. Das heißt, wir musterten der Reihe nach die Türme im Westen, Süden und Osten sowie die Mauern dazwischen. Der Nordturm, der sich über dem Steilhang erhob, konnte aus Gründen der Symmetrie nicht anders sein als das, was wir sahen.
Und was wir sahen, war (wie William feststellte, während ich es auf meiner Tafel notieren musste), dass im Oberstock des Aedificiums jede Mauer zwei Fenster hatte und jeder Turm deren fünf.
»Nun überleg mal«, sagte mein Meister. »Jeder Raum, den wir in der Bibliothek gesehen haben, hatte ein Fenster...«
»Außer den siebeneckigen«, warf ich ein.
»Versteht sich, das waren die Räume im Innern der Türme.«
»Und außer einigen wenigen, die nicht siebeneckig waren und trotzdem keine Fenster hatten.«
»Vergiss sie. Wir müssen zuerst die Regel finden, dann können wir die Ausnahmen zu erklären versuchen. Wir haben also in jedem Turm fünf Außenräume und an jeder Mauer zwei, jeweils mit einem Fenster. Doch erinnere dich, wenn man in der Bibliothek von einem Außenraum mit Fenster ins Innere des Aedificiums geht, gelangt man wieder in einen Raum mit Fenster. Es muss sich also um Fenster zu jenem Innenhof handeln, den man von der Küche und vom Skriptorium aus sehen kann. Und in welcher Form ist dieser Innenhof angelegt?«
»Als Achteck.«
»Sehr gut, und an jeder Seite des Achtecks befinden sich im Skriptorium zwei Fenster. Dementsprechend muss es also in der Bibliothek an jeder Seite des Achtecks zwei innere Räume geben. Richtig?«
»Ja, aber was ist mit den fensterlosen Räumen?«
»Es sind insgesamt acht. Der siebeneckige Innenraum, der sich in jedem Turm befindet, hat jeweils fünf Wände mit Durchgängen, die zu den fünf Außenräumen des Turms führen. Was liegt hinter den beiden restlichen Wänden? Es sind weder Außenräume, denn sonst hätten sie Fenster, noch können es Räume zum Innenhof sein, aus demselben Grund und weil sie sonst extrem langgezogen wären. Versuch doch einmal, den Grundriss der Bibliothek zu zeichnen. Du wirst sehen, dass es bei jedem Turm zwei Räume geben muss, die einerseits an den siebeneckigen Innenraum angrenzen und andererseits an zwei Räume mit Fenstern zum Achteck...«
Ich versuchte es, entwarf den Grundriss nach den
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