Die historischen Romane
Ihr es mir gegenüber nicht zugeben wollt, dass die Stellungnahme des Kapitels zu Perugia im Streit um die Armut Christi und der Kirche, bei aller Subtilität ihrer theologischen Deduktionen, im Grunde die gleiche ist, die auch, gewiss grobschlächtiger und weniger orthodox, von zahlreichen Ketzergruppen vertreten wird. Es ist nicht schwer zu beweisen, dass die Haltung Michaels von Cesena, die sich nun der Kaiser zu eigen gemacht hat, weitgehend identisch ist mit der Haltung Ubertins von Casale und seines Freundes Angelo Clareno. Bis hierher werden die beiden Legationen, die päpstliche und die kaiserliche, sich auch gewiss einigen können. Aber Bernard Gui ist imstande, noch weiter zu gehen, und er hat das erforderliche Format: Er wird zu behaupten versuchen, dass die Thesen von Perugia identisch sind mit denen der Fratizellen, ja denen der Pseudo–Apostoli. Stimmt Ihr mir zu?«
»Meint Ihr, dass es so ist, oder dass Bernard behaupten wird, dass es so sei?«
»Sagen wir«, wich der Abt diplomatisch aus, »ich meine, dass er es behaupten wird.«
»Darin stimme ich Euch zu. Aber das war ja vorauszusehen. Ich meine, wir wussten, dass damit zu rechnen sein würde, auch ohne den Auftritt Bernards. Der gewiefte Dogmatiker wird die Debatte höchstens noch rascher und effizienter auf diesen Punkt bringen als die vielen neu ernannten Kurialen. Man wird also gegen ihn noch subtiler argumentieren müssen.«
»Gewiss«, sagte der Abt, »aber nun sind wir bei dem Problem, das ich gestern ansprach. Wenn wir bis morgen nicht den Urheber der beiden oder möglicherweise der drei Verbrechen gefunden haben, werde ich Bernard gestatten müssen, die Abtei mit seinen Soldaten zu überwachen. Ich kann einem Manne mit seinen Vollmachten (die ihm, vergessen wir das nicht, mit Zustimmung beider Seiten erteilt worden sind) schlechterdings nicht verheimlichen, dass hier in der Abtei unerklärliche Dinge geschehen sind und weiter geschehen. Er würde sonst mit vollem Recht Verrat schreien können, sobald er es von selber entdeckt, sobald gar (was Gott verhüten möge) ein neues Verbrechen geschieht...«
»Das ist wahr«, nickte William sorgenvoll. »Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als auf der Hut zu sein und Bernard zu überwachen, während er die Abtei überwacht, um den geheimnisvollen Mörder zu fangen. Vielleicht hat das ja auch sein Gutes, denn wenn er auf Mörderjagd ist, hat er nicht mehr so viel Zeit, in die Diskussion einzugreifen.«
»Bernard auf Mörderjagd, hier in meiner Abtei? Das wird mir ein ständiger Dorn im Auge sein, bedenkt das bitte! Diese schlimme Affäre zwingt mich, zum ersten Mal einen Teil meiner Autorität innerhalb dieser Mauern abzutreten, und das ist ein Novum nicht nur in der Geschichte dieser Abtei, sondern in der des ganzen Cluniazenserordens. Ich würde alles tun, um das zu vermeiden. Vielleicht sollte ich damit beginnen, den beiden Legationen das Gastrecht zu verweigern...«
»Ich bitte Eure Erhabenheit inständig, einen so folgenreichen Schritt genau zu bedenken«, sagte William. »Ihr habt einen Brief des Kaisers erhalten, der Euch dringlichst auffordert...«
»Ich weiß, was mich mit dem Kaiser verbindet«, unterbrach der Abt schroff, »und Ihr wisst es auch. Daher wisst Ihr auch, dass ich leider nicht mehr zurück kann. Das alles ist wirklich sehr übel. Wo steckt Berengar, was ist mit ihm geschehen, was habt Ihr unternommen?«
»Ich bin nur ein schlichter Mönch, der eine Zeitlang erfolgreich inquisitorische Untersuchungen durchgeführt hat. Ihr wisst sehr wohl, dass man die Wahrheit nicht in zwei Tagen findet. Und welche Vollmachten habt Ihr mir schon gegeben? Darf ich die Bibliothek betreten? Darf ich alle Fragen stellen, die ich will, immer gestützt auf Eure Autorität?«
»Ich sehe nicht ein, was die Morde mit der Bibliothek zu tun haben sollen«, schnaubte der Abt ungehalten.
»Adelmus war Miniaturenmaler, Venantius war Übersetzer, Berengar war der Adlatus des Bibliothekars...«, erklärte William geduldig.
»So gesehen haben alle sechzig Mönche hier mit der Bibliothek zu tun, genau wie mit der Kirche. Warum sucht Ihr nicht in der Kirche? Bruder William, Ihr führt hier eine Untersuchung in meinem Auftrag durch und in den von mir angegebenen Grenzen. Ansonsten bin ich in diesen Mauern der einzige Herr nach Gott und dank seiner Gnade. Das wird auch für Bernard gelten. Im Übrigen ist es gar nicht gesagt«, fügte der Abt etwas milder hinzu, »dass Bernard allein dieses
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