Die historischen Romane
mir Salvatore zu warten bedeutete und in die Küche entschwand. Nach kaum einer halben Stunde erschien er wieder und brachte mir eine dampfende Schüssel, über die er ein Tuch gebreitet hatte. Es duftete ausgezeichnet.
»Tiens!« sagte er und reichte mir auch eine große, reichlich mit Öl gefüllte Lampe.
»Wozu das denn?« fragte ich überrascht.
»Weiß nich«, sagte er mit hinterhältiger Miene. »Viellaisch questa notte tuo Magister will ire in locum oscurum...«
Wahrlich, dieser seltsame Bruder wusste entschieden mehr, als man dachte. Ich zog es vor, nicht weiter in ihn zu dringen, und brachte die Speise zu William. Wir aßen, ich wünschte meinem Meister eine gute Nacht und zog mich in meine Zelle zurück. Jedenfalls tat ich so. Denn ich wollte an diesem Abend wenn irgend möglich noch mit Ubertin sprechen, und so schlich ich mich heimlich in die Kirche.
Dritter Tag
NACH KOMPLET
Worin Adson die schlimme Geschichte des Fra Dolcino erfährt, sich andere schlimme Geschichten vergegenwärtigt oder auf eigene Faust in der Bibliothek zu Gemüte führt und schließlich, erregt von all diesen Entsetzlichkeiten, einem lieblichen Mädchen begegnet, das ihm schön wie die Morgenröte erscheint und schrecklich wie eine waffenstarrende Heerschar.
D iesmal war Ubertin in der Kirche. Ich fand ihn am Fuß der Mariensäule, kniete mich schweigend neben ihm nieder und (ich gestehe es) tat eine Weile so, als ob ich betete. Dann fasste ich mir ein Herz und sprach ihn an.
»Ehrwürdiger Vater«, begann ich, »darf ich Euch um Rat und Erleuchtung bitten?«
Ubertin sah mich an, nahm meine Hand in die seine, erhob sich und führte mich zu einer Bank. Wir setzten uns, er umarmte mich, und ich spürte seinen Atem an meiner Wange.
»Mein liebster Sohn«, sagte er warm, »alles, was ich armer alter Sünder für deine Seele tun kann, will ich mit Freuden tun. Was plagt dich? Es ist die Begierde, nicht wahr?« fragte er fast begierig, »die Begierde des Fleisches?«
»Nein«, antwortete ich errötend, »eher die Begierde des Geistes, der zu viel wissen will...«
»Das ist nicht gut. Nur der Herr ist allwissend, wir können nichts anderes tun, als seine Weisheit anbeten.«
»Aber wir müssen doch auch in der Lage sein, das Gute vom Bösen zu unterscheiden und die menschlichen Leidenschaften zu verstehen. Ich bin Novize, doch eines Tages werde ich Mönch und Seelsorger sein, und so muss ich lernen, wo sich das Böse verbirgt und in welcher Gestalt es auftritt, damit ich es erkennen und die anderen darin unterweisen kann.«
»Das ist wahr, mein Sohn. Also, was willst du wissen?«
»Die Wahrheit über das Giftkraut der Häresie, mein Vater«, sagte ich mit Überzeugung. Dann gab ich mir einen Ruck und sprudelte in einem einzigen Atemzuge hervor: »Ich hörte von einem schlimmen Menschen, der andere Menschen verführte: Fra Dolcino.«
Ubertin sah mich schweigend an. Dann nickte er: »Richtig, du hast den Namen neulich gehört, als William und ich miteinander sprachen. Es ist in der Tat eine überaus schlimme Geschichte, denn sie lehrt... ja, und darum musst du sie wohl erfahren, um eine nützliche Lehre aus ihr zu ziehen... sie lehrt, sagte ich, wie aus der Liebe zur Buße und aus dem Verlangen, die Welt vom Übel zu säubern, Bluttaten und Vernichtung hervorgehen können.« Er setzte sich etwas bequemer, lockerte seinen Griff um meine Schultern, ließ aber seine Hand auf meinem Nacken liegen, wie um mir seine Weisheit zu übertragen oder auch seine Wärme.
»Die Geschichte beginnt vor jenem Fra Dolcino«, hob er an, vor mehr als sechzig Jahren, und ich war damals noch ein Kind. Es war in Parma, wo ein gewisser Gherardo oder Gerhardus Segarelli zu predigen anfing. Er rief die Menschen zur Buße auf, er lief durch die Straßen und schrie ›penitenziagite!‹ (womit er in seiner ungeschlachten Art sagen wollte: › Penitentiam agite, a ppropinquavit enim regnum coelorum.‹) und lehrte seine Anhänger, sich wie die Jünger Jesu zu geben, weshalb er auch wollte, dass seine Sekte als ›Ordo Apostolorum‹ bezeichnet werde. Und seine Getreuen sollten als arme Bettelbrüder, die nur von Almosen leben, hinausgehen in die Welt...«
»Wie die Fratizellen«, warf ich ein. »Und war das nicht auch der Auftrag Unseres Herrn Jesus und Eures Franziskus?«
»Ja«, nickte Ubertin seufzend und mit einem leichten Zögern in seiner Stimme, »aber vielleicht ging Gherardo ein wenig zu weit. Jedenfalls wurde ihm und den Seinen bald
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