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Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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einnisten, in die Politik, in die Wissenschaft, in die Kunst und vor allem in die Medizin, denn Ärzte dringen tiefer in die Familien ein als Priester. Sie planten, die Kirchen zu unterminieren, die Freigeisterei zu verbreiten, den Religionsunterricht in den Schulen abzuschaffen, den Handel mit Alkoholika und die Kontrolle der Presse an sich zu reißen. Lieber Gott, was sollten sie denn noch wollen?
    Nicht, dass ich nicht auch dieses Material wiederverwenden konnte. Ratschkowski kannte die Reden der Rabbiner wahrscheinlich nur in der Version, die ich der Glinka gegeben hatte, in der es vor allem um religiöse und apokalyptische Themen ging. Aber zweifellos musste ich meine früheren Texte um neue Passagen erweitern.
    So ging ich sorgfältig alle Themen durch, die das Interesse eines durchschnittlichen Lesers reizen könnten. Ich schrieb sie in einer schönen Handschrift nieder, wie sie vor mehr als einem Jahrhundert gebräuchlich war, auf einem gebührend vergilbten Papier – und voilà, da waren sie, die Dokumente, die mir mein Großvater hinterlassen hatte, hinterlassen als wirklich in den Versammlungen der Juden verfasst in jenem Turiner Ghetto, in dem er als junger Mann eine Zeitlang gelebt hatte, übersetzt aus den Protokollen der Rabbiner nach ihrer Versammlung auf dem Friedhof in Prag.
     
    Als Golowinski am nächsten Tag kam, war ich überrascht, dass Ratschkowski so wichtige Aufgaben einem so schlaffen und kurzsichtigen, schlechtgekleideten und wie der Klassenletzte aussehenden jungen Muschik anvertrauen konnte. Dann, als ich mit ihm sprach, bemerkte ich, dass er gescheiter war, als es schien. Er sprach ein schlechtes Französisch mit starkem russischem Akzent, aber er fragte sofort, wie es komme, dass die Rabbiner im Turiner Ghetto französisch schrieben. Ich sagte ihm, dass zu jener Zeit in Piemont alle Menschen, die schreiben konnten, französisch sprachen, und das überzeugte ihn. Hinterher habe ich mich gefragt, ob meine Rabbiner auf dem Friedhof eigentlich hebräisch oder jiddisch gesprochen hatten, aber da die Dokumente ja nun auf französisch vorlagen, spielte das keine Rolle mehr.
     
    »Sehen Sie«, sagte ich, »hier wird zum Beispiel darauf insistiert, dass man das Denken der atheistischen Philosophen verbreiten muss, um die Gojim zu demoralisieren. Und hören Sie das hier: ›Wir müssen selbst den Begriff von Gott in den Köpfen der Christen austilgen und durch arithmetische Berechnungen und materielle Bedürfnisse ersetzen.‹«
    Mein Kalkül war, dass Mathematik allen Leuten irgendwie unangenehm ist. In Erinnerung an Drumonts Klagen über die obszöne Presse hatte ich mir gedacht, dass die Idee der Verbreitung leichter und seichter Massenunterhaltung zumindest für die anständigen Bürger bestens in das Komplott passen würde. »Hören Sie das hier«, sagte ich zu Golowinski: »Um die Massen daran zu hindern, sich eine eigene politische Meinung bilden, werden wir sie mit Vergnügungen, Spielen, Leidenschaften und Volkshäusern ablenken und zu Wettbewerben in Kunst und Sport aller Art einladen… Wir werden den Wunsch nach ungebremstem Luxus anstacheln, und wir werden die Löhne erhöhen, was aber den Arbeitern keinen Vorteil bringen wird, da wir zur gleichen Zeit die Preise der notwendigsten Lebensmittel erhöhen werden unter dem Vorwand schlechter Ernten. Wir werden die Basis der Produktion untergraben, indem wir die Keime der Anarchie unter den Arbeitern verbreiten und ihre Lust am Alkohol anstacheln. Wir werden versuchen, die öffentliche Meinung zu allen Arten von phantastischen Theorien hinzulenken, die irgendwie fortschrittlich oder liberal erscheinen könnten.«
    »Gut, gut«, sagte Golowinski. Aber gibt es auch etwas, das sich besonders für Studenten eignet, außer der Sache mit den Berechnungen? In Russland sind nämlich die Studenten sehr wichtig, sie sind die Hitzköpfe, die man unter Kontrolle halten muss.«
    »Hier, wie wär’s damit: ›Wenn wir an der Macht sind, werden wir aus den Lehrplänen alle Stoffe entfernen, die den Geist der Jugend verwirren könnten, und aus den Schülern gehorsame Kinder der Staatsgewalt machen, die ihren Herrscher lieben. Das Studium der Klassiker und der alten Geschichte, in der sich mehr schlechte als gute Beispiele finden, werden wir durch das Studium der Zukunftsfragen ersetzen. Wir werden aus dem Gedächtnis der Menschen alle Geschehnisse früherer Jahrhunderte löschen, die unangenehm für uns sein könnten. Durch systematische Erziehung

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