Die historischen Romane
manche davon sind so absurd, dass ich mich schämen würde, sie dir zu nennen... Denk nur, wie es neulich mit dem Rappen Brunellus war. Als ich die Spuren erblickte, entwickelte ich eine Reihe von Hypothesen, die einander ergänzten oder auch widersprachen: Es konnte ein entlaufenes Pferd gewesen sein; es konnte sein, dass der Abt auf seinem prächtigen Rappen ausgeritten war; es konnte sein, dass ein Rappe Brunellus die Spuren im Schnee und tags zuvor ein Rappe Favellus die Strähnen am Maulbeerstrauch hinterlassen hatte, während die Zweige von Menschen geknickt worden waren. Es gab viele Möglichkeiten, und ich wusste nicht, welche Hypothese die richtige war, bis ich den besorgt umherblickenden Cellerar mit seinem Suchtrupp sah. Da erst begriff ich, dass allein die Brunellus-Hypothese die richtige war, und prüfte ihre Richtigkeit durch die Art, wie ich die Mönche ansprach. Ich gewann das Spiel, aber ich hätte es ebenso gut auch verlieren können. Die Mönche hielten mich für ungemein klug, weil ich gewonnen hatte, aber sie kannten die vielen Fälle nicht, in denen ich dumm gewesen war, weil ich verloren hatte, und sie wussten nicht, dass ich wenige Augenblicke vor meinem Sieg noch keineswegs sicher war, dass ich nicht verlieren würde. Siehst du, und ganz ähnlich steht es jetzt im Falle des Geheimnisses der Abtei: Ich habe inzwischen viele schöne Hypothesen, aber bisher noch kein evidentes Faktum, das mir zu sagen gestattet, welche die richtige ist. Und damit ich nicht hinterher dumm dastehe, verzichte ich lieber jetzt darauf, als klug zu erscheinen. Lass mir noch etwas Zeit zum Nachdenken, bis morgen wenigstens.«
Mit einem Male begriff ich die Denkweise meines Meisters, und sie schien mir recht unähnlich der eines Philosophen , der von ehernen Grundprinzipien ausgeht, so dass sein Verstand gleichsam die Vorgehensweise der göttlichen Ratio übernimmt. Ich begriff, dass William, wenn er keine Antwort hatte, sich viele verschiedene Antworten vorstellte. Und das verblüffte mich sehr.
»Aber dann«, wagte ich zu bemerken, »seid Ihr noch weit von der Lösung entfernt...«
»Wir sind ihr bereits ganz nahe«, entgegnete William heiter, »ich weiß nur noch nicht, welcher.«
»Demnach habt Ihr nicht eine einzige Antwort auf alle Fragen?«
»Lieber Adson, wenn ich eine hätte, würde ich in Paris Theologie lehren.«
»Und in Paris haben sie immer die richtige Antwort?«
»Nie«, sagte er fröhlich, »aber sie glauben sehr fest an ihre Irrtümer.«
»Und Ihr«, bohrte ich weiter mit kindischer Impertinenz, »Ihr begeht nie Irrtümer?«
»Oft«, strahlte er mich an, »aber statt immer nur ein und denselben zu konzipieren, stelle ich mir lieber viele vor und werde so der Sklave von keinem.«
Ich hatte allmählich den Eindruck, dass William überhaupt nicht ernsthaft an der Wahrheit interessiert war, die bekanntlich nichts anderes ist als die Adaequatio zwischen den Dingen und dem Intellekt. Stattdessen amüsierte er sich damit, so viele Wahrheiten wie möglich zu ersinnen!
In diesem Moment, ich gestehe es, verzweifelte ich an meinem Meister und ertappte mich unwillkürlich bei dem Gedanken: »Gar nicht so schlecht, dass die Inquisition gekommen ist!« Jawohl, ich ergriff Partei für den Wahrheitsdurst, der einen Mann wie Bernard Gui erfüllte.
In solch unguter Geistesverfassung, voller Schuldgefühle und verwirrter als Judas in der Nacht von Gethsemane, betrat ich mit William das Refektorium, wo das Abendmahl unser harrte.
Vierter Tag
KOMPLET
Worin Salvatore von einem wundertätigen Zauber spricht.
E s war ein erlesenes Mahl, das man für die hohen Gäste bereitet hatte. Der Abt kannte offensichtlich Schwächen der Menschen ebenso gut wie die Sitten am päpstlichen Hofe (die übrigens, ich muss es sagen, auch den Minderen Brüdern des Michael von Cesena durchaus nicht missfielen). Vor Kurzem waren Schweine geschlachtet worden, und so hätte es eigentlich frische Blutwurst nach Montecassiner Art geben sollen, erklärte der Küchenmeister, doch nach dem schrecklichen Ende des armen Venantius habe man leider das ganze Blut wegschütten müssen und bisher noch keine Zeit gefunden, andere Schweine zu schlachten. In Wahrheit, glaube ich, widerstand es in jenen Tagen wohl allen, irgendwelche Geschöpfe des Herrn zu töten... Indessen gab es gebratene Täubchen, durchtränkt mit dem Wein der Gegend, und gespickten Hasenrücken, dazu Santa-Clara-Brötchen und Reis mit Mandeln, wie man ihn am
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