Die historischen Romane
wollte, und nicht einmal der Kaiser hätte ihm deswegen ein Haar krümmen können. Denn wenn er es getan hätte, wären die Doktoren ja nicht mehr autonom gewesen, und wenn sie nicht autonom wären, hätte ihr Urteil keinerlei Wert und Friedrich liefe Gefahr, als Usurpator zu gelten.«
Ausgezeichnet, dachte Niketas, dieser Baudolino will mir zu verstehen geben, er habe faktisch das Reich begründet und seine Macht sei so groß, dass er einen beliebigen Satz bloß auszusprechen brauche, schon werde er wahr. Hören wir uns den Rest an.
In der Zwischenzeit hatten die Genueser einen Korb mit Obst hereingebracht, denn es war Mittag geworden, und Niketas musste sich ein wenig stärken. Sie hatten gesagt, dass die Plünderung weitergehe, weshalb es besser sei, noch im Hause zu bleiben. Baudolino erzählte weiter.
Friedrich kam also zu dem Schluss: Wenn ein noch fast bartloser Jüngling, erzogen von einem Trottel wie Rahewin, schon so scharfsinnige Ideen hatte, was würde dann erst aus ihm werden, wenn man ihn wirklich zum Studieren nach Paris schickte? Er umarmte ihn väterlich und empfahl ihm, ein wirklicher Gelehrter zu werden, nachdem er selbst wegen der Regierungsgeschäfte und der militärischen Unternehmungen nie die Zeit gehabt habe, sich gebührend zu bilden. Die Kaiserin gab ihm zum Abschied einen Kuss auf die Stirn – wir stellen uns Baudolinos Entzücken vor – und sagte zu ihm (denn diese wunderbare Frau konnte, obwohl sie eine große Dame und Kaiserin war, auch lesen und schreiben): »Und schreib mir gelegentlich, berichte mir, wie es dir geht und was du so treibst. Das Leben ist kurz und eintönig. Deine Briefe werden mir ein Trost sein.«
»Ich werde schreiben, ich schwöre es«, versicherte Baudolino mit einer Inbrunst, die die Umstehenden hätte stutzig machen müssen. Aber niemand fasste einen Verdacht – wen wundert schon die Erregtheit eines Jünglings, der im Begriff ist, nach Paris zu gehen –, außer vielleicht Beatrix selbst. Tatsächlich sah sie ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal, und ihr milchweißes Antlitz überzog sich mit einer plötzlichen Röte. Doch Baudolino hatte bereits mit einer Verbeugung, die ihn zwang, zu Boden zu blicken, den Saal verlassen.
6. Kapitel
Baudolino geht nach Paris
Baudolino kam ein bisschen verspätet nach Paris, denn in jene Schulen trat man damals nicht selten noch vor dem vierzehnten Lebensjahr ein, und er war schon zwei Jahre älter. Aber er hatte bei Otto so viel gelernt, dass er sich erlaubte, nicht alle Vorlesungen zu hören, um lieber anderes zu tun, wie wir gleich sehen werden.
Er war mit einem Gefährten aufgebrochen, einem Rittersohn aus Köln, der es vorgezogen hatte, sich anstelle des Kriegshandwerks den freien Künsten zu widmen, nicht ohne den Unmut seines Vaters zu erregen, aber unterstützt von seiner Mutter, die seine Gaben als frühreifer Dichter so unermüdlich und hochtönend pries, dass Baudolino seinen richtigen Namen, falls er ihn je erfahren, vergessen hatte. Er nannte ihn den Poeten, und so taten es später auch alle anderen, die ihn kennenlernten. Baudolino fand bald heraus, dass der Poet in Wahrheit noch nie ein Gedicht geschrieben hatte, sondern immer nur verkündete, dass er es zu tun gedenke. Da er jedoch sehr gekonnt die Gedichte anderer vorzutragen verstand, war auch sein Vater am Ende überzeugt, dass der Junge ein Musensohn sei, und hatte ihn ziehen lassen, ohne ihm allerdings mehr als das Nötigste mitzugeben, da er der irrigen Meinung war, das wenige, was zum Leben in Köln genügte, werde auch für Paris vollauf genügen.
Kaum angelangt, konnte Baudolino es gar nicht erwarten, dem Wunsch der Kaiserin zu gehorchen, und schrieb ihr mehrere Briefe. Anfangs glaubte er noch, dass seine glühende Leidenschaft dadurch ein wenig gemildert würde, aber bald wurde ihm bewusst, wie schmerzlich es war, ihr zu schreiben, ohne ihr sagen zu können, was er wirklich empfand. Er schrieb ihr perfekte und liebenswürdige Briefe, in denen er Paris schilderte, eine Stadt, die schon damals reich an schönen Kirchen war, in der man eine prickelnde Luft atmete, deren Himmel weit und heiter war, außer wenn es regnete, was aber nur ein- bis zweimal am Tag geschah, weshalb sie für einen, der aus dem fast immerwährenden Nebel kam, als ein Ort immerwährenden Frühlings erschien. Es gab einen gewundenen Fluss mit zwei Inseln darin, das Wasser war köstlich zu trinken, und gleich vor den Mauern erstreckten sich balsamisch
Weitere Kostenlose Bücher