Die historischen Romane
Recht oder Astronomie. Aber man studierte ernsthaft, anders als in Paris, wo die Studenten offenbar alles mögliche trieben, bloß nicht studierten.
Baudolino korrigierte ihn: »So kann man das nicht sagen. In Paris wurde hart gearbeitet. Zum Beispiel nahm man nach den ersten Jahren bereits an Disputen teil, und im Disput lernt man, Einwände vorzutragen und zu einer determinatio zu gelangen, das heißt zur definitiven Lösung einer Frage. Und du darfst auch nicht meinen, die Vorlesungen seien das wichtigste für einen Studenten und die Taverne sei nur ein Ort, wo man seine Zeit vertut. Das Schöne am Studium ist, dass man zwar auch von den Magistern lernt, aber mehr noch von den Mitstudenten, besonders den älteren, wenn sie dir erzählen, was sie gelesen haben, und du entdeckst, dass die Welt voll wunderbarer Dinge sein muss, die du alle kennenlernen möchtest, wozu dir jedoch – da das Leben zu kurz ist, um in alle Länder der Erde zu reisen – gar nichts anderes übrig bleibt, als alle Bücher zu lesen.«
Baudolino hatte schon viele Bücher bei Otto gelesen, doch er hätte sich niemals träumen lassen, dass es so viele auf der Welt geben könnte wie in Paris. Sie waren nicht für jedermann zugänglich, aber sein guter Stern oder vielmehr sein fleißiger Besuch nicht nur der Tavernen, sondern auch der Vorlesungen führte ihn mit Abdul zusammen.
»Um dir zu erklären, Kyrios Niketas, was Abdul mit den Bibliotheken zu tun hatte, muss ich einen Schritt zurückgehen. Also, eines Morgens, während ich eine Vorlesung hörte, wie immer auf meine Finger hauchend, um sie zu wärmen, und mit frierendem Hintern, denn das Stroh schützte wenig vor dem kalten Boden, der eisig war wie ganz Paris in jenen Wintertagen, beobachtete ich unweit von mir einen Jungen, der seiner Hautfarbe nach ein Sarazene zu sein schien, aber er hatte rotes Haar, was bei den Mauren nicht vorkommt. Ich weiß nicht, ob er der Vorlesung folgte oder seinen Gedanken nachhing, jedenfalls ging sein Blick ins Leere. Ab und zu zog er schuddernd seine Kleider um sich zusammen, dann starrte er wieder vor sich hin, und manchmal kritzelte er etwas auf seine Tafel. Ich reckte den Hals und sah, dass es zum Teil jene Fliegendreckkrakel waren, die das arabische Alphabet darstellen, und zum Teil eine Sprache, die Latein zu sein schien, es aber nicht war und mich sogar ein wenig an die Dialekte meiner Heimat erinnerte. Kurz und gut, am Ende der Vorlesung sprach ich ihn an, er reagierte sehr freundlich, als ob er sich schon lange gewünscht hätte, jemanden zu finden, mit dem er sprechen konnte, wir machten einen Spaziergang am Fluss entlang, und er erzählte mir seine Geschichte.«
Er hieß also Abdul, ganz wie ein Maure, aber seine Mutter stammte aus Hibernia, und das erklärte sein rotes Haar, denn alle, die von jener abgelegenen Insel im hohen Nordwesten kommen, haben diese Haarfarbe und stehen im Ruf, bizarr und verträumt zu sein. Der Vater war Provenzale, aus einer Familie, die sich nach der Eroberung Jerusalems vor fünfzig Jahren in Übersee niedergelassen hatte. Wie Abdul zu erklären versuchte, hatten diese noblen Franken in den Reichen jenseits des Meeres die Sitten und Gebräuche der von ihnen eroberten Völker übernommen, sie schmückten sich mit Turbanen und anderen Türkerien, sie sprachen die Sprache ihrer Feinde, und es fehlte nicht viel, dass sie auch die Vorschriften des Korans befolgten. So kam es, dass ein (zur Hälfte) hibernischer Junge mit rotem Haar den Namen Abdul trug und ein braungebranntes Gesicht hatte, braungebrannt von der Sonne Syriens, unter der er geboren war. Er dachte auf Arabisch, und auf Provenzalisch erzählte er sich die alten Sagen der eisigen Nordmeere, die er von seiner Mutter gehört hatte.
Baudolino hatte ihn gleich gefragt, ob er nach Paris gekommen sei, um wieder ein guter Christ zu werden und so zu sprechen, wie es sich für wohlerzogene Leute gehörte, also in gutem Latein. Doch über die Gründe, warum er nach Paris gekommen war, blieb Abdul recht zurückhaltend. Er deutete lediglich an, dass ihm etwas widerfahren sei, etwas Beunruhigendes offenbar, eine Art schreckliche Prüfung, der er noch als Kind unterzogen worden sei, wonach seine Eltern beschlossen hätten, ihn nach Paris zu schicken, um ihn einer Blutrache zu entziehen. Während er davon sprach, verdüsterte sich sein Blick, er errötete, soweit ein Maure erröten kann, seine Hände zitterten, und Baudolino beschloss, das Thema zu wechseln.
Der
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