Die historischen Romane
darüber?« fragte Kyot ebenso misstrauisch zurück.
»He, he«, mischte sich Baudolino ein, »wie es scheint, liegt euch beiden sehr viel an diesem Gradal. Was ist das denn? Soweit ich weiß, müsste ein gradalis so etwas wie ein Napf oder eine Schüssel sein.«
»Napf, Schüssel!« sagte Boron mit mildem Tadel. »Eher ein Kelch.« Dann, als entschlösse er sich, ein Geheimnis zu lüften: »Ich wundere mich, dass ihr noch nie davon gehört habt. Es ist die kostbarste Reliquie der ganzen Christenheit, der Kelch, in welchem Jesus beim Letzten Abendmahl den Wein in Blut verwandelt hat und in welchem dann Joseph von Arimathia das Blut aus der Seite des Gekreuzigten aufgefangen hat. Manche sagen, der Name dieses Kelches sei Saint Graal , andere sagen statt dessen Sangreal , königliches Blut, denn wer ihn besitze, gehöre dadurch zu einem Geschlecht auserwählter Ritter, die vom selben Stamme seien wie David und wie unser Herr Jesus Christus.«
»Graal oder Gradal?« fragte der Poet, der sofort aufhorchte, wenn er von etwas hörte, das eine Macht verleihen konnte.
»Man weiß es nicht«, sagte Kyot. »Einige sagen auch Grasal und andere Graalz. Und es ist nicht gesagt, dass er ein Kelch ist. Die ihn gesehen haben, erinnern sich nicht an die Form, sondern wissen nur, dass er ein Gegenstand war, der außergewöhnliche Kräfte besaß.«
»Wer hat ihn denn gesehen?« fragte der Poet.
»Sicher die Ritter, die ihn in Broceliande hüteten. Aber auch von ihnen hat sich jede Spur verloren, ich habe nur Leute kennengelernt, die von ihm erzählen.«
»Es wäre besser, wenn man von dieser Sache weniger erzählen würde und lieber versuchte, mehr darüber zu wissen«, meinte Boron. »Dieser junge Mann war gerade in der Bretagne, und kaum hat er davon reden gehört, schon sieht er mich an, als wollte ich ihm etwas wegnehmen, was er gar nicht hat. So geht es allen. Man hört irgendwo vom Gradal reden, und schon glaubt man, man sei der einzige, der ihn finden werde. Ich war auch in der Bretagne, sogar auf den Inseln jenseits des Meeres, ich habe dort volle fünf Jahre verbracht, ohne zu erzählen, nur um zu suchen ...«
»Und hast du ihn gefunden?« fragte Kyot.
»Das Problem ist nicht, den Gradal zu finden, sondern die Ritter, die wussten, wo er sich befand. Ich bin durchs Land gezogen und habe nach ihnen gefragt, aber ich bin ihnen nie begegnet. Vielleicht war ich kein Auserwählter. Und jetzt seht ihr mich hier zwischen alten Pergamenten wühlen in der Hoffnung, eine Spur zu entdecken, die mir beim Durchstreifen jener Wälder entgangen ist ...«
»Was reden wir hier eigentlich vom Gradal?« sagte Baudolino. »Wenn er sich in der Bretagne befindet oder auf jenen Inseln, braucht er uns nicht zu interessieren, denn er hat nichts mit dem Priester Johannes zu tun.« Falsch, widersprach Kyot, denn wo sich das Schloss befinde, in dem der Gradal gehütet werde, sei nie recht geklärt worden, aber unter den vielen Geschichten, die er gehört habe, sei eine gewesen, nach welcher einer von jenen Rittern, ein gewisser Feirefiz, ihn wiedergefunden und dann einem seiner Söhne geschenkt habe, einem Priester, der später König von Indien geworden sein solle.
»Faseleien«, sagte Boron. »Meinst du, ich hätte jahrelang am falschen Ort gesucht? Wer hat dir denn die Geschichte von diesem Feirefiz erzählt?«
»Jede Geschichte kann gut sein«, meinte der Poet, »und wenn du Kyots Geschichte folgst, kannst du womöglich deinen Gradal finden. Aber im Moment ist es für uns nicht so wichtig, ihn zu finden, sondern erstmal zu klären, ob es sich lohnt, ihn mit dem Priester Johannes zu verbinden. Mein lieber Boron, wir suchen hier nicht einen Gegenstand, sondern jemanden, der über ihn spricht.« Dann wandte er sich an Baudolino: »Was hältst du davon? Der Priester Johannes besitzt den Gradal, aus ihm bezieht er seine allesüberragende Würde, und die könnte er doch auf Friedrich übertragen, indem er ihm das Ding zum Geschenk macht!«
»Und es könnte derselbe Rubinkelch sein, den der Prinz von Sarandib dem Harun al-Raschid gesandt hatte«, regte Solomon an, wobei er vor lauter Erregung begann, durch den zahnlosen Teil seines Mundes zu pfeifen. »Die Sarazenen verehren Jesus als einen großen Propheten, sie könnten den Kelch gefunden haben, und dann könnte Harun ihn seinerseits dem Priester geschenkt haben ...«
»Großartig!« sagte der Poet. »Der Kelch als vorausweisendes Symbol der Wiedergewinnung dessen, was die Mauren zu Unrecht
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