Die historischen Romane
kann ihn nicht sehen, ich sehe nur ein Licht ...«
»Du siehst nur ein Licht«, sagte Boron, »aber ich sehe mehr. Da sind Fackeln, die den Saal erleuchten, ja, aber jetzt hört man ein Donnern, ein schreckliches Grollen, als wollte der Palast im Boden versinken. Eine große Finsternis bricht herein ... Nein, jetzt erleuchtet ein Sonnenstrahl den Palast siebenmal heller als zuvor. Oh, und da kommt der Heilige Gradal, bedeckt mit einem weißen Samttuch, und den Palast erfüllen die Düfte aller Spezereien der Welt. Und während der Gradal rings um den Tisch getragen wird, füllen sich die Teller vor den Augen der Ritter mit allen nur denkbaren Speisen ...«
»Aber was zum Teufel ist denn bloß dieser Gradal?« rief der Poet erneut.
»Nicht fluchen, er ist ein Kelch.«
»Woher weißt du das, wenn er doch unter einem Samttuch ist?«
»Ich weiß es eben«, versteifte sich Boron. »Man hat es mir gesagt.«
»Verflucht sollst du sein in den Jahrhunderten, gemartert werden sollst du von tausend Dämonen! Es scheint, du hättest eine Vision, und dann erzählst du uns, was dir andere sagen, und nicht, was du siehst? Du bist ja schlimmer als dieser blöde Ezechiel, der nicht wusste, was er sah, weil diese Juden nicht Bilder betrachten, sondern angeblich nur auf Stimmen hören!«
»Ich muss doch bitten, schamloses Lästermaul!« erboste sich Solomon. »Nicht für mich, aber die Bibel ist ein heiliges Buch, auch für euch verabscheuenswerte Gojim!«
»Beruhige dich, beruhige dich«, sagte Baudolino. »Aber hör mal, Boron. Nehmen wir an, der Gradal ist der Kelch, in dem Unser Herr den Wein verwandelt hat. Wie aber konnte Joseph von Arimathia das Blut des Gekreuzigten darin auffangen, wenn doch der Heiland, als er vom Kreuz abgenommen wurde, schon tot war, und Tote ja, wie du weißt, nicht bluten?«
»Selbst als Toter konnte Jesus noch Wunder wirken.«
»Es war kein Kelch«, mischte sich Kyot ein. »Derselbe Mann, der mir die Geschichte mit Feirefiz erzählt hat, hat mir auch verraten, dass der Gradal ein vom Himmel gefallener Stein war, lapis ex coelis , und wenn er ein Kelch war, dann nur, weil er aus diesem Stein geschnitten worden ist.«
»Und warum soll er nicht die Lanzenspitze gewesen sein, die dem Heiland in die Seite gebohrt hat?« fragte der Poet. »Hast du nicht vorhin gesagt, du hättest einen Knappen in den Saal treten sehen, der eine blutende Lanze trug? Siehst du, und ich sehe nicht einen, sondern drei Knappen mit einer Lanze, aus der Bäche von Blut rinnen ... Und ich sehe einen als Bischof gekleideten Mann mit einem Kreuz in der Hand, der auf einem Sessel sitzt, welcher von vier Engeln getragen wird, und die Engel stellen ihn vor dem silbernen Tisch ab, auf dem jetzt die Lanze liegt ... Dann zwei Knaben, die ein Tablett hereintragen, auf dem der abgeschlagene Kopf eines Menschen liegt, blutüberströmt. Und jetzt spricht der Bischof die heilige Formel über der Lanze und hebt die Hostie empor, und in der Hostie erscheint das Bild eines Kindes! Ich sage euch: Die Lanze ist der wundertätige Gegenstand, und sie ist Zeichen der Macht, weil sie Zeichen der Stärke ist!«
»Nein, aus der Lanze quillt Blut, aber die Tropfen fallen in einen Kelch, zum Beweis des Wunders, von dem ich gesprochen habe«, sagte Boron. »Es ist so einfach ...« Und er begann zu lächeln.
»Geben wir's auf«, sagte Baudolino resigniert. »Lassen wir den Gradal sein, was er sein mag, und schreiben wir weiter den Brief.«
»Meine Freunde«, sagte da Rabbi Solomon mit der Distanz dessen, der als Jude nicht sehr beeindruckt war von jener hochheiligen Reliquie. »Diesen Priester Johannes gleich zu Beginn ein so kostbares Geschenk machen zu lassen kommt mir übertrieben vor. Außerdem könnte, wer den Brief liest, Friedrich womöglich bitten, ihm dieses Wunderding zu zeigen. Immerhin können wir ja nicht ausschließen, dass die Geschichten, die Kyot und Boron gehört haben, schon vielerorts zirkulieren, also würde ein Wink genügen, und wer verstehen will, versteht schon. Schreibt lieber nicht Gradal, schreibt auch nicht Kelch, benutzt einen unbestimmteren Ausdruck. Die Torah nennt die erhabensten Dinge nie direkt beim Namen, spricht sie nie im Wortsinn aus, sondern immer nur in einem verborgenen Sinn, den der fromme Leser nach und nach erraten muss, da der Allerhöchste, der Heilige sei immerdar gesegnet, ihn erst am Ende der Zeiten verstanden wissen wollte ...«
»Gut, sagen wir also«, schlug Baudolino vor, »er schickt ihm einen
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