Die historischen Romane
besessen hatten. Von wegen Jerusalem!«
Sie beschlossen, es zu versuchen. Abdul gelang es, nachts aus dem Skriptorium der Abtei von Sankt Viktor ein kostbares, noch nie beschriebenes Pergament zu entwenden. Es fehlte nur noch ein Siegel, um es wie den Brief eines Königs aussehen zu lassen. In jenem Studentenzimmer, das für zwei gedacht war und in dem sich nun sechs Personen um einen wackligen Tisch drängten, diktierte Baudolino mit geschlossenen Augen, als hätte er eine Eingebung. Abdul schrieb, weil seine Handschrift, die er bei den Christen in Übersee erlernt hatte, am ehesten an die Art und Weise erinnerte, wie ein Orientale lateinische Buchstaben schrieb. Bevor er anfing, schlug er vor, damit alle im richtigen Maße scharfsinnig und erfinderisch seien, den Rest des noch in der Dose befindlichen grünen Honigs zu verteilen, doch Baudolino entgegnete, an diesem Abend gelte es, einen klaren Kopf zu behalten.
Als erstes fragten sie sich, ob der Priester nicht in seiner adamitischen Sprache schreiben müsste, oder zumindest in Griechisch, aber dann kamen sie zu dem Schluss, dass ein König wie er zweifellos Sekretäre hatte, die alle Sprachen beherrschten, und dass er an Friedrich aus Höflichkeit in lateinischer Sprache schreiben würde. Auch weil, hatte Baudolino hinzugefügt, der Brief ja den Papst und die anderen christlichen Fürsten überzeugen sollte und daher vor allem auch ihnen verständlich sein musste.
Der Presbyter Johannes, kraft der Macht und Herrlichkeit Gottes und Unseres Herrn Jesus Christus Herr der Herrschenden, an Friedrich, den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, dem er Gesundheit und fortdauernden Genuss der göttlichen Gnade wünscht.
Unserer Majestät war schon berichtet worden, dass Du Unsere Exzellenz in hoher Achtung hältst und dass Kunde von Unserer Magnifizenz zu Dir gelangt ist. Aber nun haben Wir von Unseren Emissären erfahren, dass Du Uns etwas Erfreuliches und Vergnügliches schicken willst, auf dass sich Unsere Mildtätigkeit daran ergötze. Gern nehmen Wir die Gabe an und schicken Dir durch einen Unserer Boten ein Zeichen von Uns, begleitet vom Wunsche zu wissen, ob Du mit Uns dem rechten Glauben folgst und ob Du in allem an Unseren Herrn Jesus Christus glaubst. In Anbetracht der Größe Unserer Freigebigkeit: wenn Dir etwas dienlich ist, was Dir Vergnügen bereiten könnte, lass es Uns wissen, sei es durch einen Wink gegenüber Unserem Boten oder durch ein Zeugnis Deiner Liebe. Nimm dafür als Gegengabe ...
»Warte mal«, sagte Abdul, »das könnte doch der Moment sein, in dem er Friedrich den Gradal schickt!«
»Ja, schon«, sagte Baudolino, »aber diese beiden Pfeifenköpfe Boron und Kyot haben uns immer noch nicht gesagt, um was es sich dabei eigentlich handelt.«
»Sie haben so viele Geschichten gehört, sie haben so viele Dinge gesehen, vielleicht erinnern sie sich nicht mehr an alles. Deswegen hatte ich ja vorgeschlagen, von dem Honig zu nehmen: Der lockert ihnen die Gedanken.«
Vielleicht hatte er recht, der diktierende Baudolino und der schreibende Abdul konnten sich mit Wein begnügen, aber die Zeugen, oder besser die Quellen der Offenbarung, mussten mit grünem Honig angestachelt werden. So kam es, dass nach wenigen Augenblicken Boron, Kyot (verblüfft über die neuen Gefühle, die ihn überkamen) und der Poet, der an dem Honig inzwischen Gefallen gefunden hatte, sich mit einem selig-blöden Lächeln auf den Boden setzten und wild drauflos phantasierten wie Aloadins Geiseln.
»Ah! Oh!« rief Kyot aus. »Ich sehe einen großen Saal und Fackeln, die ihn erleuchten mit einem Licht, wie man es sich nie hätte vorstellen können. Und da erscheint ein Knappe mit einer Lanze so weiß, dass sie im Licht des Kaminfeuers schimmert. Und aus der Spitze der Lanze quillt ein Blutstropfen und rinnt den Schaft hinunter bis auf die Hand des Knappen ... Dann kommen zwei weitere Knappen mit vergoldeten Leuchtern, auf denen jeweils mindestens zehn Kerzen brennen. Die Knappen sind wunderschön anzusehen ... Und da, jetzt tritt eine Jungfrau herein, die den Gradal hält, und durch den Saal verbreitet sich ein gleißendes Licht ... die Kerzen verblassen wie der Mond und die Sterne, wenn die Sonne aufgeht. Der Gradal ist aus reinstem Gold, besetzt mit den kostbarsten Edelsteinen, die es zur See und zu Lande gibt ... Und jetzt tritt eine andere Jungfrau herein, die eine silberne Schale trägt ...«
»Was ist denn nun dieser verdammte Gradal?« rief der Poet.
»Ich
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