Die historischen Romane
ohne Bücher, war zu einer Art Refektorium geworden. Hier lebte Zosimos mit zwei oder drei Eleven, und Gott allein wusste, worin ihre mönchischen Übungen bestanden. Als Baudolino und die Seinen mit ihrem Gefangenen an der Oberfläche auftauchten, schliefen die Eleven bereits, aber sie waren, wie sich am nächsten Morgen herausstellen sollte, ohnehin benebelt genug von ihren Zechgelagen, um keine Gefahr darzustellen. So beschlossen unsere Freunde, in der Bibliothek zu schlafen. Zosimos hatte böse Träume, während er auf dem Boden zwischen Kyot und Abdul schlief, die mittlerweile seine Schutzengel geworden waren.
Am nächsten Morgen setzten sich alle um einen Tisch und forderten Zosimos auf, unverzüglich zur Sache zu kommen.
»Also gut, zur Sache denn«, sagte Zosimos. »Kosmas' Karte befindet sich im Bukoleon-Palast, an einem Ort, der mir bekannt ist und zu dem ich den Weg weiß. Wir werden heute am späten Abend hingehen.«
»Zosimos«, sagte Baudolino, »du zögerst die Sache ständig hinaus. Sag uns jetzt erstmal genau, was auf dieser Karte zu sehen ist.«
»Nun, ganz einfach«, antwortete Zosimos und nahm ein Pergament und einen Stift. »Ich sagte ja schon, dass jeder rechtgläubige Christ die Tatsache anerkennen muss, dass die Welt im ganzen, also das Universum, so geformt ist wie jenes Tabernaculum , um es für euch Lateiner zu sagen, von dem die Heiligen Schriften sprechen. Jetzt aufgepasst: Im unteren Teil dieses Heiligtums befand sich ein Tisch mit zwölf Schaubroten, je eines für jeden Monat des Jahres. Rings um den Tisch erhob sich ein Sockel, der den Okeanos darstellte, und rings um diesen Sockel war ein handbreiter Rahmen, der die Erde des Jenseits darstellte, wo sich im Osten das Irdische Paradies befindet. Der Himmel wurde durch die Wölbung dargestellt, die sich ganz auf die vier äußersten Enden der Erde stützt, aber zwischen Wölbung und Basis war der Schleier des Firmaments gespannt, hinter dem die himmlische Welt liegt, die wir erst am Jüngsten Tag von Angesicht zu Angesicht sehen werden. Denn, wie der Prophet Jesajas gesagt hat, Gott ist Der, welcher über der Erde thront, deren Bewohner wie Heuschrecken sind, Der, welcher den Himmel wie einen Schleier gespannt und wie ein Zelt ausgebreitet hat. Auch der Psalmist lobt Den, der den Himmel aufgespannt hat wie ein Zelt – und Zelt heißt ja in der Sprache von euch Lateinern tabernaculum . Alsdann hat Moses unter dem Schleier im Süden den Leuchter aufgestellt, der den ganzen Erdkreis erhellte, und darunter sieben Lampen zur Bezeichnung der sieben Wochentage und aller Sterne am Himmel.«
»Aber du erklärst mir nur, wie jenes Tabernakel beschaffen war«, sagte Baudolino, »und nicht, wie das Universum geformt ist.«
»Aber das Universum ist wie das Tabernakel geformt, und wenn ich dir erkläre, wie das Tabernakel beschaffen war, erkläre ich dir damit logischerweise, wie das Universum beschaffen ist. Wie kann es sein, dass du so etwas Einfaches nicht begreifst? Sieh her ...« Er machte eine Zeichnung.
»Hier habt ihr die Form des Universums als Tabernakel. Es ist genau wie ein Tempel«, erläuterte Zosimos, »mit seinem halbrunden Deckengewölbe, dessen oberer Teil unseren Augen durch den Schleier des Firmaments verborgen bleibt. Darunter erstreckt sich die Oikumene, das heißt die bewohnte Welt, also die ganze Erde, auf der wir leben, aber die ist nicht flach, sondern ruht auf dem Okeanos, der sie umgibt, und sie steigt über einen unmerklich und kontinuierlich ansteigenden Hang zum äußersten Norden und zum Westen auf, wo sich ein Gebirge erhebt, so hoch, dass sein Vorhandensein unseren Augen entgeht und sein Gipfel mit den Wolken verschmilzt. Die Sonne und der Mond, die von den Engeln bewegt werden – denen wir auch den Regen, die Erdbeben und alle anderen atmosphärischen Phänomene verdanken –, ziehen morgens von Osten nach Süden, vorn vor dem Berg vorbei, so dass sie die Erde erhellen, und dann bewegen sie sich von Süden nach Westen, um abends hinter dem Berg zu verschwinden, so dass wir den Eindruck haben, sie gingen unter. Wenn es also bei uns Nacht wird, wird es auf der anderen Seite des Berges Tag, aber diesen Tag kann niemand sehen, denn die andere Seite des Berges ist Wüste, und niemand ist je dort gewesen.«
»Und mit dieser Zeichnung sollen wir das Land des Priesters Johannes finden?« fragte Baudolino. »Zosimos, ich warne dich. Unser Pakt heißt, dein Leben für eine gute Karte, aber wenn die Karte
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