Die historischen Romane
wir aus dem Ostturm in das Skriptorium, und im selben Moment entfuhr mir unwillkürlich ein bewundernder Ausruf. Das Obergeschoss war nicht zweigeteilt wie das untere, und so öffnete sich der Raum vor meinen Augen in seiner ganzen immensen Weite. Die von robusten Pfeilern gestützten Deckenbögen, rund gewölbt, aber nicht zu hoch (niedriger als in einer Kirche, aber höher als in jedem Kapitelsaal, den ich jemals gesehen), überspannten einen hellen, von herrlichem Licht durchfluteten Saal, denn an jeder der vier Hauptseiten öffneten sich drei mächtige Fenster, während fünf kleinere die fünf Außenmauern aller vier Türme durchbrachen und schließlich acht hohe und schmale Fenster das Licht aus dem achteckigen Innenhof eintreten ließen.
Die Fülle der Fenster bewirkte, dass der große Saal sich auch zu dieser spätherbstlichen Nachmittagsstunde noch eines gleichmäßigen, diffusen Lichtes erfreuen durfte. Die Scheiben waren nicht farbig bemalt wie in Kirchen, vielmehr umspannten bleiernen Fassungen klare Gläser, durch welche folglich das Tageslicht in denkbar reinster Form eintreten konnte, um, von keiner menschlichen Kunst moduliert, seinen hehren Zweck zu erfüllen, nämlich die Arbeit des Lesens und Schreibens aufs Trefflichste zu erhellen. Ich habe in späteren Jahren und andernorts noch manches Skriptorium gesehen, aber keines, das mit den Bündeln des physischen Lichtes, welches die Umwelt erleuchtet, so wunderbar das im Licht verkörperte Geistesprinzip erstrahlen ließ, nämlich die claritas , Quelle aller Schönheit und Weisheit, unabtrennbares Attribut der majestätischen Proportionen des Saales. Dreierlei nämlich wirkt zusammen, um die wahre Schönheit zu schaffen: erstens die Unversehrtheit oder Vollendung, weswegen uns unvollendete Dinge hässlich erscheinen, zweitens die maßvolle Proportion oder Harmonie, und drittens eben die Klarheit oder das Licht, weswegen wir schön nennen, was von klarer Farbe ist. Und da die Vision des Schönen stets auch das Friedliche in sich enthält und es für unser Gefühl dasselbe ist, ob wir Ruhe finden im Frieden, im Guten oder im Schönen, fühlte ich mich von einem großen Trost durchdrungen und dachte, wie angenehm es doch sein musste, an diesem Ort zu arbeiten.
Ja, damals, in jener Stunde beginnender Dämmerung, erschien mir das Skriptorium wie eine fried- und freudvolle Werkstatt der Weisheit. In Sankt Gallen sah ich später ein ähnlich wohlproportioniertes Skriptorium, ebenfalls von der Bibliothek getrennt (in anderen Abteien pflegen die Mönche am selben Ort zu arbeiten, wo auch die Bücher aufbewahrt werden), aber dieses war noch viel schöner angelegt. Restauratoren, Kopisten, Rubrikatoren und Forscher saßen jeder an seinem eigenen Tisch, je einer vor jedem Fenster. Und da es insgesamt vierzig Fenster waren (eine wahrhaft vollendete Zahl, die sich der Verzehnfachung des Vierecks verdankt, als wären die Zehn Gebote mit den vier Kardinaltugenden multipliziert worden), hätten vierzig Mönche einhellig nebeneinander arbeiten können, mochten sich auch in diesem Augenblick nur knapp dreißig im Saal befinden. Severin erklärte uns, dass die im Skriptorium tätigen Mönche von den Gebeten zur Tertia, Sexta und Nona entbunden waren, damit sie das Tageslicht voll ausnutzen konnten und ihre Arbeit erst bei Einbruch der Dunkelheit zur Vesper zu unterbrechen brauchten.
Die hellsten Plätze waren den Restauratoren, den erfahrensten Miniaturenmalern und den Kopisten vorbehalten. Jeder Tisch hatte alles, was man zum Malen und zum Kopieren braucht: Tintenfässer, feine Federn, die einige Mönche mit winzigen Messerchen schärften, Bimssteine, um das Pergament zu glätten, und Lineale, um die Zeilenlinien zu ziehen. Neben jedem Schreiber oder auch am oberen Ende der schrägen Schreibfläche eines jeden Tisches stand ein Lesepult, auf dem der zu kopierende Codex ruhte, festgehalten durch eine bewegliche Maske, welche die gerade abzuschreibende Zeile einfasste. Manche hatten auch goldene oder andersfarbige Tinten. Andere Mönche sah ich nur lesen und sich Notizen machen in Hefte oder auf kleine Täfelchen.
Allerdings hatte ich keine Zeit, ihre Arbeit genauer zu beobachten, denn schon eilte der Bibliothekar herbei, den wir bereits als Malachias von Hildesheim kannten. Er gab sich Mühe, seinem Antlitz einen Ausdruck des Willkommens zu geben, aber das änderte nichts daran, dass ich angesichts dieser einzigartigen Physiognomie unwillkürlich erschrak. Seine
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