Die historischen Romane
Gestalt war hoch, und seine Glieder wirkten trotz ihrer extremen Magerkeit groß und grobknochig, und wie er da in seiner schwarzen Kutte mit langen Schritten rasch auf uns zukam, hatte er etwas Beunruhigendes, ja Unheimliches. Die Kapuze, die er noch nicht abgestreift hatte, da er gerade von draußen kam, warf auf sein bleiches Gesicht einen Schatten, der seinen großen melancholischen Augen etwas Schmerzliches gab. Tiefe Furchen in seinen Zügen kündeten von vergangenen, einstmals offenbar wilden und nun vom Willen gebändigten Leidenschaften. Wehmut und Ernst beherrschten sein Antlitz, und seine Augen waren so stechend, dass sie mit einem einzigen Blick tief ins Herz seines Gegenübers einzudringen und seine geheimsten Gedanken zu lesen vermochten, weshalb man ihr forschendes Starren kaum ertragen konnte und versucht war, ihm auszuweichen.
Nachdem der Bibliothekar uns begrüßt hatte, führte er uns durch den Saal und stellte uns zahlreiche Mönche vor. Bei jedem von ihnen nannte er nicht nur den Namen, sondern auch die Art ihrer Tätigkeit, und bei allen bewunderte ich die Hingabe an ihre Wissenschaft und an das Studium der Worte Gottes. So lernte ich Venantius von Salvemec kennen, einen Übersetzer aus dem Griechischen und Arabischen sowie großen Verehrer des Aristoteles, des gewiss größten Gelehrten aller Zeiten. Ferner Benno von Uppsala, einen jungen skandinavischen Mönch, der sich mit Rhetorik und Grammatik beschäftigte, Berengar von Arundel, den Adlatus des Bibliothekars, Aymarus von Alessandria, der Bücher kopierte, die der Bibliothek nur leihweise für ein paar Monate überlassen waren, und schließlich eine Reihe von Miniatoren aus verschiedenen Ländern, Patrick von Clonmacnois, Rhaban von Toledo, Magnus von Iona, Waldo von Herford...
Die Liste könnte noch lange fortgesetzt werden, und nichts ist gewiss erfreulicher als eine Liste, Werkzeug wunderbarer Hypotyposen. Doch ich muss zum Inhalt unserer Gespräche kommen, denn daraus ergaben sich zahlreiche nützliche Hinweise zum Verständnis der spürbaren Unruhe, die unter den Mönchen herrschte, sowie des irgendwie unausgesprochenen Etwas, das ihre Reden belastete.
William begann das Gespräch mit Malachias, indem er die Schönheit und Zweckmäßigkeit des Skriptoriums lobte und sich erkundigte, wie hier die Arbeit vonstatten gehe, denn er habe, so fügte er wohlüberlegt hinzu, allerorten von dieser trefflichen Bibliothek gehört und würde gern viele der Bücher genauer in Augenschein nehmen. Malachias erklärte ihm, wie es bereits der Abt getan hatte, dass der Mönch, der ein bestimmtes Buch haben wolle, den Bibliothekar darum bitten müsse, und dieser hole es dann aus der Bibliothek im zweiten Obergeschoss, wenn der Wunsch gerechtfertigt sei und fromm. Auf Williams Frage, woher mden Titel des Buches erfahren könne, zeigte Malachias ihm einen voluminösen, mit einem goldenen Kettchen an seinem Tisch befestigten Codex, dessen Seiten von oben bis unten eng mit Listen bedeckt waren.
William versenkte die Hand in seine Kutte, wo sie vor der Brust einen Beutel bildete, und förderte einen Gegenstand zutage, den ich bereits früher zuweilen in seinen Händen oder auf seiner Nase gesehen hatte: eine kleine zweizackige Gabel, die so geformt war, dass sie auf der Nase eines Mannes sitzen konnte (zumal auf einer so kühn gebogenen Adlernase wie der meines Meisters), wie ein Reiter auf seinem Pferd sitzt oder ein Vogel auf seiner Stange. Rechts und links an den beiden Zacken der Gabel befanden sich, in genauer Entsprechung zu den Augen, zwei ovale Metallringe, die zwei dicke mandelförmige Gläser umspannten. Mit diesen Gläsern vor seinen Augen pflegte William zu lesen, und er sagte, er könne mit ihnen besser sehen, als es ihm die Natur oder sein fortgeschrittenes Alter gestatte, vor allem wenn das Tageslicht nachzulassen beginne. Allerdings brauche er das Gerät nicht, um in die Ferne zu sehen (im Gegenteil, da waren seine Augen sogar besonders scharf), sondern nur, um etwas aus der Nähe zu betrachten, und tatsächlich konnte er mit diesen Gläsern Manuskripte in winziger Schrift lesen, die zu entziffern selbst mir nicht immer leichtfiel. Wie er mir einmal erklärte, sei es nämlich so, dass bei vielen Menschen, wenn sie die Mitte ihrer Lebenszeit überschritten hätten, die Augen leicht ermüdeten und die Pupillen sich nicht mehr so gut anpassen könnten, selbst wenn ihre Sehkraft immer hervorragend gewesen sei, weshalb leider viele Gelehrte nach
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