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Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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ein ganz in Schwarz gekleidetes Mädchen mit dicken Lidschatten und sehr blassem Teint saß, zog es in die Mitte des Saales und begann mit ihm zu tanzen. Die beiden tanzten fast Bauch an Bauch, mit schlaff herunterhängenden Armen. »Ich kann auch dich lieben«, sagte Lorenza. Und küsste sie auf den Mund.
    Die anderen bildeten einen Halbkreis um sie, ein bisschen erregt, und jemand rief etwas. Belbo hatte sich hingesetzt und betrachtete die Szene mit einem undurchdringlichen Ausdruck, wie ein Impresario, der einer Theaterprobe zuschaut. Er schwitzte und hatte ein nervöses Zucken am linken Auge, das ich noch nie an ihm bemerkt hatte. Dann plötzlich, als Lorenza schon mindestens fünf Minuten lang tanzte und ihre Bewegungen immer lasziver wurden, straffte er sich und sagte scharf: »Komm jetzt her!«
    Lorenza blieb stehen, spreizte die Beine auseinander, streckte die Arme nach vorn und schrie: »Ich bin die Heilige und die Hure!«
    »Du bist ein Haufen Scheiße«, sagte Belbo, stand auf, ging geradewegs auf sie zu, packte sie hart am Handgelenk und zog sie zur Tür.
    »Lass mich!« schrie sie. »Was erlaubst du dir…« Dann brach sie in Schluchzen aus und warf ihm die Arme um den Hals. »Liebster, ich bin doch deine Sophia! Du wirst dich doch nicht wegen sowas aufregen…«
    Belbo legte ihr sanft den Arm um die Schultern, küsste sie auf die Schläfe und strich ihr die Haare aus der Stirn, dann sagte er in den Saal: »Entschuldigt, sie ist es nicht gewohnt, so viel zu trinken.«
    Ich hörte ein paar Leute kichern. Ich glaube, auch Belbo hatte es gehört. Er entdeckte mich auf der Türschwelle und machte etwas, von dem ich bis heute nicht weiß, ob es für mich, für die anderen oder für ihn selbst bestimmt war. Er machte es gedämpft, mit halblauter Stimme, als die anderen sich schon abgewandt hatten.
    Den Arm immer noch um Lorenzas Schultern, drehte er sich halb zum Saal herum und machte leise, wie jemand, der eine Selbstverständlichkeit sagt: »Kikerikiii.«

 
    51
     
    Wann derohalben ein kabbalistischer Großkopfeter dir
    etwas sagen will, so denke nicht, er sage dir
    etwas Frivoles, etwas Vulgäres, etwas Gemeines:
    sondern ein Geheimnis, ein Orakel…
     
    Thomaso Garzoni, II Theatro de vari e diversi cervelli
    mondani , Venedig, Zanfretti, 1583, Discorso XXXVI
     
    Das Bildmaterial, das ich in Mailand und Paris gefunden hatte, genügte nicht. Signor Garamond genehmigte mir eine Reise nach München, zum Deutschen Museum.
    Ich verbrachte einige Abende in den Bars von Schwabing – soll heißen in jenen immensen Krypten, wo ältere Herren mit Schnauzbart und kurzen Lederhosen Blechmusik oder Hackbrett spielen, während die Paare, dichtgedrängt eins neben dem andern sitzend, sich durch Rauchschwaden voller Schweinsbratendunst über riesigen Maßkrügen zulächeln – und die Nachmittage im Lesesaal mit der Durchsicht des Fotoarchivs. Ab und zu ging ich ins Museum hinüber, wo alles nachgebaut worden ist, was je ein menschliches Hirn hat erfinden können: Man drückt auf einen Knopf, und Dioramen von Ölfeldern beleben sich mit stampfenden Pumpen, man spaziert durch ein echtes Unterseeboot, man lässt die Planeten kreisen, man spielt Chemiefabrik und Atomkraftwerk… Ein weniger gotisches und ganz auf die Zukunft ausgerichtetes Conservatoire, bewohnt von lärmenden Schulklassen, die das Ingenium der Ingenieure lieben lernen.
    Im Deutschen Museum lernt man auch alles über den Bergbau: Man steigt eine Treppe hinunter und betritt ein richtiges Bergwerk, komplett mit Stollen, Fahrkörben für Menschen und Pferde, engen Schläuchen, in denen ausgemergelte Kinder (aus Wachs, hoffe ich) kriechend ihre Fronarbeit verrichten. Man wandert durch endlose finstere Gänge, schaut in einen Brunnen ohne Boden, spürt die Kälte in den Knochen und meint beinahe das Grubengas zu riechen. Alles im Maßstab eins zu eins.
    Ich gelangte in einen Seitengang, verlor schon die Hoffnung, das Tageslicht jemals wiederzusehen, und entdeckte am Rande eines Abgrunds jemanden, der mir bekannt vorkam. Das Gesicht hatte ich schon irgendwo gesehen, faltig und grau, mit weißem Haar und Eulenblick, aber mir war, als müsste er anders gekleidet sein, als hätte ich dieses Gesicht über einer Art Uniform gesehen, wie wenn man einen Priester nach langer Zeit in Zivil wiedersieht oder einen Kapuziner ohne Bart. Auch er sah mich an, auch er zögernd. Und wie es in solchen Fällen geschieht, nach einem Duell kurzer Blicke ergriff er die Initiative

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