Die historischen Romane
viel wussten.«
Wir setzten unseren Gang durch die Stollen fort, und Salon warf beim Sprechen zerstreute Blicke umher, spähte in die Einmündung anderer Stollen, in die Tiefe anderer Brunnen, als suchte er im Halbdunkel nach einer Bestätigung seines Verdachts.
»Haben Sie sich jemals gefragt, warum alle großen modernen Metropolen sich Ende des vorigen Jahrhunderts so beeilten, Untergrundbahnen zu bauen?«
»Um Verkehrsprobleme zu lösen. Oder nicht?«
»Als es noch gar keinen Autoverkehr gab und nur Pferdedroschken durch die Straßen rollten? Von einem Mann Ihres Geistes hätte ich mir eine subtilere Erklärung erwartet!«
»Und haben Sie eine?«
»Vielleicht«, sagte Signor Salon, und es schien, als sagte er es mit abwesender und gedankenversunkener Miene. Doch es war eine Art, das Gespräch abzublocken. Und tatsächlich bemerkte er nun, er müsse jetzt gehen. Dann, nachdem er mir erneut die Hand gereicht hatte, blieb er noch einen Augenblick stehen, als fiele ihm gerade noch etwas ein: »Apropos, dieser Oberst ... wie hieß er doch gleich, der damals vor Jahren zu Garamond gekommen war, um Ihnen von einem Schatz der Templer zu erzählen? Haben Sie nie wieder von ihm gehört?«
Ich stand wie vom Schlag gerührt vor dieser brüsken und indiskreten Enthüllung von Kenntnissen, die ich für intim und begraben gehalten hatte. Ich wollte ihn fragen, woher er das wisse, aber ich fürchtete mich davor. So sagte ich nur mit möglichst indifferenter Miene: »Ach, eine alte Geschichte, hatte ich ganz vergessen… Aber apropos, warum haben Sie ›apropos‹ gesagt?«
»Habe ich ›apropos‹ gesagt? Ach ja, gewiss, mir schien, als hätte er etwas in einem Untergrund gefunden…«
»Woher wissen Sie das?«
»Weiß nicht mehr. Kann mich nicht mehr erinnern, wer mir davon erzählt hat. Vielleicht ein Kunde. Aber ich horche immer auf, wenn Untergründe erwähnt werden. Eine Altersmanie. Guten Abend.«
Er ging davon, und ich blieb stehen, um dieser Begegnung nachzusinnen.
52
In gewissen Regionen des Himalaja, zwischen den
zweiundzwanzig Tempeln, welche die zweiundzwanzig
Arcana des Hermes darstellen und die
zweiundzwanzig Buchstaben einiger heiliger
Alphabete, bildet Agarttha die mystische Null, das
unauffindbare Alles und Nichts – alles für die
Synarchie, nichts für die Anarchie… Der Leser
stelle sich ein kolossales Schachbrett vor, das sich
unterirdisch erstreckt, durch fast alle Regionen des Erdballs.
Saint-Yves d'Alveydre, Mission de l'Inde en Europe ,
Paris, Calmann-Lévy, 1886, p. 54 und 65
Zurück in Mailand, erzählte ich Belbo und Diotallevi von meinem Erlebnis, und wir stellten verschiedene Hypothesen auf: Salon, ein Exzentriker und Schwätzer, der sich in gewisser Weise an Mysterien delektierte, hatte Ardenti getroffen, und das war alles. Oder: Salon wusste etwas über Ardentis Verschwinden und arbeitete für die, die ihn hatten verschwinden lassen. Oder auch: Salon war ein Informant der Polizei…
Dann sahen wir andere Diaboliker, und Salon vermischte sich mit seinesgleichen.
Ein paar Tage später hatten wir Agliè zu Besuch, der uns über einige Manuskripte referierte, die Belbo ihm zur Begutachtung zugesandt hatte. Er beurteilte sie präzise, streng und mit Nachsicht. Agliè war scharfsinnig, es hatte ihn nicht viel gekostet, das Doppelspiel Garamond-Manuzio zu durchschauen, und wir hatten ihm die Wahrheit nicht länger verschwiegen. Er schien zu verstehen und zu verzeihen. Er vernichtete einen Text mit wenigen schneidenden Sätzen, dann fügte er mit sanftem Zynismus hinzu, für Manuzio sei er gerade recht.
Ich fragte ihn, was er uns über Agarttha und Saint-Yves d'Alveydre sagen konnte.
»Saint-Yves d'Alveydre…«, begann er. »Ein bizarrer Geselle, ohne Zweifel, seit früher Jugend frequentierte er die Anhänger von Fabre d'Olivet. Er war nur ein Angestellter im Innenministerium, aber ambitioniert… Freilich fand seine Ehe mit Marie-Victoire nicht unseren Beifall…«
Agliè hatte nicht widerstanden. Er war zur ersten Person übergegangen. Er rief sich Erinnerungen ins Gedächtnis.
»Wer war Marie-Victoire? Ich liebe Klatschgeschichten«, sagte Belbo.
»Marie-Victoire de Risnitch, eine strahlende Schönheit, als sie noch Busenfreundin der Kaiserin Eugénie war. Aber als sie Saint-Yves begegnete, hatte sie die Fünfzig bereits überschritten. Er war in den Dreißigern. Eine Mesalliance für sie, das ist nur natürlich. Aber damit nicht genug, um ihm einen
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