Die Hoehle der Traenen
begriff. »Er hat es versprochen . Er ist nämlich eine Schutzwache, und er hat gesagt, er würde auf Flax aufpassen, als wäre er sein kleiner Bruder.« Bei dem letzten Wort brach ihre Stimme, und sie holte tief und schluchzend Luft. »Also lebt er noch? Richtig? Er lebt, und mein Bruder ist tot?« Sie wandte sich Safred zu. »Ist das so?«
Safred nickte. »Ich glaube schon. Aber wir wissen nicht, warum …«
»Es ist egal, warum !«, sagte Zel. »Das ist egal. Er lebt, und mein kleiner Bruder ist tot. Er hatte es versprochen.« Sie warf das Zaumzeug und den Lappen auf den Boden. »Wo ist der Zauberer jetzt?«
»Auf dem Weg nach Turvite«, sagte Safred. »Zel …«
»Die Kriegsherren haben sich versammelt, um zu kämpfen, hä? Um noch mehr Menschen zu töten, ja? Mir scheint, als wäre dieser Zauberer der Einzige, der ehrlich geblieben ist.« Sie ging zur Tür hinaus.
Sorn wollte ihr folgen, doch Safred hielt sie zurück. »Lasst sie gehen.«
»Ist das auch Teil des Musters?«, fragte Martine bitter.
»Ich bete darum, dass es so ist«, sagte Safred.
Saker
Saker schaute über die Ebene und auf die sich in der Ferne erhebenden Hügel. Dort lag Turvite, und dahinter das Meer.
Es war fünfzehn Jahre her, dass er das letzte Mal hier gewesen war. Damals wollte Freite bei einem Händler aus den Wind Cities einige besondere Kräuter tauschen, die sie für einen bestimmen Bann gegen eine Seuche benötigte.
Der Händler hatte sich geweigert, sie ihr zu veräußern, und sie war wütend gewesen. Saker stellte fest, dass er nun, da er darüber nachdachte, froh darüber war. Hatte sie vorgehabt, ihren Feinden eine Seuche auf den Hals zu hetzen und nur deshalb darauf verzichtet, weil sie nicht sicher sein konnte, ob sie ihre eigene Haut dabei würden retten können? Im Nachhinein schien dies wahrscheinlich.
Er war damals erst ein Junge gewesen, eingeschüchtert und gehorsam. Er hatte die hohen Hügel mit ihren goldenen Häusern angeglotzt, war vor lauten Geräuschen zurückgeschreckt, die in allen Straßen zu hören waren, hatte in den Nächten, nachdem sie ihm Stärke entzogen hatte, nur schwer Schlaf gefunden. Sie hatte Kundschaft gehabt, eine Frau mit saphirfarbenen Augen, einen Mann mit einer von Röteln gezeichneten Nase, einen alten Mann in kostspieliger Kleidung, der sie wie eine Dienstmagd herumkommandierte. Gefallen hatte ihr dies nicht, doch nachdem er wieder
fort war, hatte sie sich Saker zugewandt und mit Genugtuung gesagt: »Er trägt Krebs in sich und wird in einem Jahr tot sein, ganz gleich welch hohen Rang er bekleidet!«
Darin hatte eine gewisse Bedeutung gelegen, die er nicht begriffen hatte, eine komplizierte, politische oder gesellschaftliche Wechselwirkung, die ihm beizubringen sie sich nie die Mühe machte. Nun begriff er mit plötzlicher Überraschung, dass all das überhaupt nicht zählte. Die alten Regeln würden gebrochen werden, alteingesessene Familien würden aussterben, alter Reichtum würde unter seinen Leuten verteilt werden. Gesellschaftliche Stände würden verschwinden, Ebenbürtigkeit würde andauern. Gleichheit. All diese Dinge, die er nie so recht verstanden hatte, würden unwichtig werden.
Sie würden sich Straße für Straße ihren Weg durch Turvite bahnen, und dieses Mal würde keiner entkommen.
Ash
Ash trat an das Flussufer.
Der Sandstrand in der sanften Flusskurve war mit kleinen Wellen übersät, und hier und da wuchsen Gruppen von Weiden und Erlen bis zum Ufer. Baluch und er benutzten die Äste eines dieser Bäume, um sich den Hang hochzuschwingen. Über den hellen Himmel segelten Schäfchenwolken auf einer Decke aus Rosenfarben und Gold dahin. Ashs Instinkte als Schutzwache ließen ihn sofort eine Standortbestimmung vornehmen. Es war niemand zu sehen.
Kaum waren sie ans Ufer getreten, trocknete sie ein leichter Wind. Dieser Moment, als sie den Fluss verließen, war voller Kummer und Verlust.
Ash sah, dass sein Schmerz sich auf Baluchs Miene widerspiegelte.
»Es ist immer so«, sagte Baluch leise. »Es bricht einem das Herz, sie zu verlassen. Jedes Mal wieder.«
Ash nickte. Also war es wie menschliche Liebe, so wie die Lieder verlauten ließen. Eine Mischung aus Freude und Schmerz, Verlangen und Sehnsucht, Wonne und Qual.
Er akzeptierte es mit Erleichterung. Wenn seine Verbindung mit dem Fluss ungetrübtes Glück gewesen wäre, hätte es sich falsch für ihn angefühlt, so wie das Glück, das der Mohnsaft mit sich brachte. Vergänglich.
»Das Herz der Liebe ist
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