Die Hoehle der Traenen
leuchteten, cremefarben, ocker, orangefarben und grün. Und überall das murmelnde Seufzen von Wasser und Luft.
»Wer bringt Licht in das Dunkel?«, dröhnte plötzlich eine Stimme hoch über ihnen. »Wer stört diese heilige Stätte?« Das Echo nahm die Worte auf und formte einen Vorwurf daraus, die Verheißung einer Strafe, eine Totenglocke.
»Oh, Swith!«, flüsterte Medric. Doch obwohl ihr Herz raste,
spähte Bramble weiter nach vorn, hielt das Licht hoch. Dies war einer jener Momente, in dem andere Menschen Angst empfanden. Sie hingegen hatte nie auf vertrautem Fuß mit der Angst gestanden, und sie hatte auch nicht vor, jetzt damit anzufangen.
»Wer will das wissen?«, fragte sie.
»Ach, zur Hölle, Bramble, du hättest doch wenigstens kreischen können!« Es war Ashs Stimme, von einem Vorsprung an der Felswand zu ihrer Rechten kommend.
Bramble lachte und spürte dabei, wie die Götter in ihrem Kopf lächelten und ihr gestatteten, auf Ash zuzueilen. Dieser blickte ihr mit breitem Grinsen entgegen. Er wirkte kräftiger und glücklicher als zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte.
»Ich kreische nicht«, sagte sie. »Wie bist du hierhergekommen?«
Er zuckte mit den Schultern und ging dann bis zur Kante des Abbruchs, um ihnen hinaufzuhelfen. »Auf die gleiche Weise wie du«, sagte er beiläufig. »Durch Zauber.«
Sie nickte und hakte nicht nach. Wenn er ihr mehr erzählen wollte, dann würde er es tun. Sie reichte Medric die Kerze und war selbst überrascht, als sie Ash in die Arme nahm. »Das ist Medric«, sagte sie und trat zurück. »Er war Grubenarbeiter und hat mir geholfen, den Platz zu finden, zu dem ich gehen musste.«
Medric starrte Ash an. »Du erschreckst wohl gerne Leute, was?«, fragte er.
»Es war eine berechtigte Frage«, erwiderte Ash abwesend. »Ich konnte ja nicht erkennen, wer sich hinter dem Licht verbarg.« Er wandte sich ab und winkte jemanden aus der Finsternis zu sich heran.
Medric hielt die Kerze höher und beleuchtete damit einen alten Mann, der sich geräuschlos auf sie zubewegte.
Bramble war ein wenig schockiert, denn der Mann war so gekleidet, wie sich Actons Volk vor tausend Jahren gekleidet hatte; Strumpfhose und Kittel, er trug langes Haar mit perlenbesetzten Zöpfen vorn, Schaffellstiefel, die innen noch das Vlies hatten. Es fehlte bloß noch ein Bart.
Der Mann trat in den Kreis des Kerzenlichts und lächelte sie an. »Zum Gruße«, sagte er. »Eine glückliche Fügung für uns, wie es scheint.«
Ein Schauer lief Bramble über den Rücken, und sie begann zu zittern. Sie kannte diese Stimme. Ganz sicher, sie kannte sie und würde sie noch in der Stunde ihres Todes erkennen.
»Das ist der Lotse«, erklärte Ash ihr. »Lotse, dies ist Bramble.«
Der alte Mann blickte verblüfft drein, während Bramble stumm dastand. Sie schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter und zwang sich dazu, etwas zu sagen, obwohl Tränen in ihre Augen traten und ihre Beine nach wie vor zitterten. Sie musste sich dazu zwingen, ihn nicht zu umarmen, sich ihm nicht in die Arme zu werfen, wie sie es bei Maryrose oder ihrem Großvater getan hätte. Schließlich kannte er sie gar nicht.
»Er war einmal Lotse«, sagte sie. »Aber seine Schiffskameraden haben ihn Baluch genannt.«
Bramble starrte in blaue, blaue Augen. Augen, an die sie sich so deutlich erinnerte wie an Maryrose. Diese Augen hier leuchteten interessiert, und fast, ja fast konnte sie die Musik hören, die nun zweifellos in seinem Kopf erklang. Bestimmt war es eine Art Flötenmusik, hoch und trillernd. Es fiel ihr schwer, ruhig weiterzuatmen.
Ash stand wie erstarrt da, blasser noch als sonst, als stehe er vor einem Rätsel, das plötzlich Sinn, eine Lösung ergab, aber eine, die ihm nicht gefiel. »Du bist Baluch ?«, fragte er.
Der alte Mann nickte langsam, seine Miene mit Bedacht ausdruckslos.
Baluch.
Hier. Eintausend Jahre später. Immer noch hier. Bramble wurde von einer Fülle von Erinnerungen überströmt; Baluch als Kleinkind, das Acton tadelte; Baluch als kleiner Junge, als Bursche, als junger Mann, als Erwachsener … Baluch, der jauchzte vor Freude, während Actons Boot über die Stromschnellen sauste. Baluch, der vor Wut schrie, während sein Schwert in die Körper seiner Feinde fuhr. Baluch, der am Ufer des White River stand und sagte: »Da ist etwas im Norden, das mich ruft …«
»Der See«, sagte Bramble und klammerte sich dabei an die einzig mögliche Erklärung, damit es nicht weiter in
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