Die Hoehle der Traenen
Kleidern abgebürstet, um sie nun zu
verwechseln. Sanft wischte sie sie zu einem kleinen Haufen zusammen. Es waren nur einige wenige, doch es war so, als sei der Rotschimmel bei ihr und ermutige sie.
Als Nächstes holte sie die Knochen hervor. Sanft glitt sie mit ihren Fingern über die Wölbung seines Schädels, eine heimliche Liebkosung und die einzige, die ihr jemals zuteilwerden würde. Dann legte sie den Schädel auf das Haar des Rotschimmels, um ihn in Sicherheit zu wissen. Es war das erste Mal, dass sie die Knochen im Licht genauer betrachten konnte, wenn auch nur im schwachen Lichtschein einer Kerze. Sie wirkten lächerlich klein.
»Ich musste die Beinknochen zurücklassen«, sagte sie, fast als Entschuldigung gegenüber Acton. »Ich hatte keinen Platz mehr für sie.«
Baluch hockte sich neben den Schal und streckte die Hand aus, um den Schädel zu berühren. Seine Hand zitterte. »Acton«, flüsterte er.
Natürlich bekam er keine Antwort. Bramble wandte sich ab. Sie wusste nur zu gut, wie Baluch zu Mute war, und das beunruhigte sie. Wie sehr hatte er sich wohl verändert, seit er sein Leben in kleinen Stücken lebte und sich seit tausend Jahren ganz nach der Laune des Sees von einer Zeit in die andere bewegte? Weder sein Lächeln noch seine Augen hatten sich verändert. Und auch nicht seine Stimme.
Ash starrte die Knochen mit geweiteten Augen und wie gelähmt an.
» Ash «, zischte Bramble in scharfem Ton. Er blinzelte und wandte sich ihr erleichtert zu. »Sing«, forderte sie ihn auf.
»Ich bin mir nicht sicher …« Er sah Baluch an und senkte die Stimme. »Sie hat mir eine Art Muster von einem Lied gegeben, aber keine Worte und auch nicht die genaue Melodie.«
Baluch nickte. »Es gibt da ein paar Lieder, die jedes Mal
neu erfunden werden müssen. Du wirst deine eigene Version von dem finden müssen, was sie dir gegeben hat.«
Bramble fragte sich, ob »sie« der See war. Die beiden würden es ihr offenkundig nicht sagen. Auch gut. Sie hatte ihre eigenen Geheimnisse.
Ash angelte sein Gürtelmesser aus der Scheide, hielt es ein wenig unsicher in den Händen und fing dann an zu singen.
Die ersten Noten, rau wie auf Stein kratzender Stein, ließen Bramble zusammenfahren. Sie hatte diesen Klang schon einmal gehört, als Safred versucht hatte, Cael zu heilen. Es war der Klang von Macht, der in Anbetracht dessen, was sie vorhatten, beruhigend hätte klingen sollen, es aber nicht war. Es fühlte sich einfach falsch an.
Auch Ash schien so zu empfinden, denn nach einer Weile verstummte er und schüttelte den Kopf. »Es ist noch nicht richtig«, sagte er.
»Dieses Lied klang in meinen Ohren zu alt«, meinte Baluch sanft. »Ich glaube, du musst es neu interpretieren.« Sein Kopf neigte sich zur Seite, als hörte er etwas oder jemanden. »Du wirst es zu deinem machen müssen«, fügte er hinzu.
Ash nickte und kniete sich neben die Knochen. Zögernd streckte er die Hand über den Schädel aus, um sie dann seitlich herabgleiten zu lassen, bis er die Handfläche auf der Wölbung des Schlüsselbeins ruhen ließ. »Acton«, sagte er leise.
Bramble erinnerte sich an etwas und griff rasch in der Tiefe der anderen Tasche nach Actons Brosche. Sie hatte sie von Anfang an zu einer bestimmten Zeit Ash zurückgeben wollen. Nun schien dieser Zeitpunkt gekommen zu sein, und vielleicht half die Brosche ihm, so wie sie ihr selbst auch geholfen hatte.
Sie kniete sich neben ihn und legte die Brosche neben Actons Schädel auf den Boden. Baluch schnappte nach Luft. Sein Großvater hatte sie angefertigt, erinnerte sich Bramble. Eric, der Fremdstämmige, hatte sie für den Stammesführer Harald machen lassen, damit dieser sie seiner Frau schenken konnte, die sie ihrerseits ihrer Tochter Asa, Actons Mutter, gegeben hatte. Und Asa hatte sie an Acton weitergereicht. Actons Mörder Asgarn hatte sie von dessen Umhang gerissen, als dieser sterbend auf dem Boden lag, und sie seinem Komplizen Red gegeben, dem Verräter. Von da an war sie durch wer weiß wie viele Hände gegangen, bevor sie bei Ash gelandet war. Eintausend Jahre Wechsel von Eigentümern. Diese Brosche war auf einem langen Weg bis in ihre Zeit gekommen, als wäre sie langsam durch das Unterholz eines Waldes gegangen, während Baluch sozusagen von Baum zu Baum gesprungen war.
Bramble nahm die Brosche in die Hand und wog sie, als hätte sie jedes Jahr schwerer werden müssen. Dann legte sie sie zurück auf den Schal, gleich neben Actons Schädel.
»Ich gebe dir das
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