Die Hoehle der Traenen
war. In ihren Augen lag Verzweiflung.
Ohne nachzudenken ging er auf sie zu, doch auf halbem Weg erkannte er, wie schnell er ging, und verlangsamte sein Tempo, damit den um die Tische versammelten Männern
und Dienerinnen nichts auffiel. Ihm war aufgetragen worden, sich etwas zu essen zu besorgen. Und nun befolgte er diese Anweisung, sagte er sich. Doch sein Herz schlug unangenehm schnell, und er war wütend auf das oder den, der diese Angst in ihren Augen verursacht hatte.
»Meine Lady«, sagte er und verneigte sich, so wie die Etikette es vorschrieb.
Mit gesenktem Blick erwiderte sie die Verneigung. »Mein Lord Leof.« Sie sah zum Koch auf. »Mein Lord ist hungrig. Holt ihm etwas zu essen.«
»Ja, meine Lady«, sagte der Mann und rannte zurück in die Küche, womit er sie, für den Moment, in Stille zurückließ.
»Geht es Euch gut?«, fragte er. Damit brach er die Regel, nie etwas Persönliches in der Öffentlichkeit zu sagen, doch er musste einfach erfahren, was diesen Blick des Kummers oder der Wut, er wusste es nicht genau, hervorgerufen hatte.
»Ist es wahr?«, fragte sie leise. »Ist es wahr, dass mein Lord Wil hinausgeschickt hat, um das Gerücht zu verbreiten, dass die Geister Wanderer verschonen?«
»Es ist kein Gerücht. Es ist die Wahrheit.«
Sie sah streng auf und begegnete seinem Blick. »Und rechtfertigt es das, über den Mord an Unschuldigen hinwegzusehen?«
Es war, als hätte sie ein Bild richtig herum aufgestellt, sodass er alles deutlich sehen konnte und den Plan seines Herrn so erkennen konnte, wie er gemeint war. »Nein«, erwiderte er. »Das rechtfertigt es nicht. Aber für den Augenblick sind die Wanderer hier bei uns sicherer.«
»Wir müssen dafür sorgen, dass es auch so bleibt«, sagte sie leise und mit Nachdruck.
Er nickte.
Sie blieben stumm stehen, bis der Koch mit einem Tablett Essen zurückkehrte. Damit täuschten sie aller Welt und sogar sich selbst vor, einander gerade nicht zum Verrat verpflichtet zu haben – er gegen seinen Lord, auf den er einen Eid geleistet hatte. Und sie gegen ihren Gatten.
Bramble
Als sie erwachten, hatte sich die Welt um sie herum verändert. Statt in einer kleinen Höhle befanden sie sich nun in einer der riesigen Kavernen, in denen Wasser von den Wänden tropfte und sich Steinsäulen an Decke und Boden gebildet hatten; der freundliche kleine Lichtstreifen war nicht mehr zu sehen. Neben ihnen floss ein dunkler Fluss geräuschlos vor sich hin, wobei seine stummen Kräuselungen in dem flackernden Kerzenlicht bedrohlich wirkten. Er verschwand in einer hohen, dünnen Spalte in der Wand.
An den Flussufern standen seltsame Gestalten aus Fels; ein riesiger Vogel mit ausgebreiteten Flügeln, ein winterlicher Baum, makellos, doch nur so groß, dass er Bramble bis an die Brust reichte, eine über ein Feuer gebeugte alte Frau. Andere wirkten grässlicher, wie Wassergeister oder wilde Eber mit leuchtenden Stoßzähnen. Das Geräusch von tröpfelndem, sanft an die Ufer schlagendem Wasser hallte fortwährend wider.
»Die Höhle der Tränen«, sagte Medric, mit einer Spur von Panik in der Stimme, während er eine Felsformation nach der anderen betrachtete. »Sie lässt einen nie wieder hinaus.«
»Die Angst schwächt dich, Junge«, sagte Acton. »Atme tief ein.«
Medric verstand seine Worte nicht, doch das Lächeln, das sie begleitete, munterte ihn auf, und er schob die Schultern
zurück. Acton nickte ihm aufmunternd zu, woraufhin seine Brust vor Stolz anschwoll.
Männer!, dachte Bramble. Sie standen Schlange, um ihn zu verehren. »Das hier ist nicht die, in der wir vorher waren«, sagte sie energisch. »Wir sind nicht dorthin zurückgebracht worden, wo wir gewesen sind.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Baluch neugierig. »Wir könnten uns doch in einem anderen Teil der gleichen Kaverne befinden.«
Bramble schüttelte stur den Kopf. »Nein. Diese andere Kaverne verlief von Norden nach Süden. Diese hier verläuft von Osten nach Westen.« Für Acton wiederholte sie es in der alten Sprache.
Medric glaubte ihr nicht, die anderen jedoch schon.
»Kannst du sagen, wo wir sind?«, fragte Ash.
»Südlich von der Stelle, wo wir vorher waren, glaube ich.« Sie konzentrierte sich. »Der Grubeneingang liegt weiter hinter uns. Der Weiße Fluss ist womöglich nahe. Er kommt aus diesen Höhlen.« Sie legte eine Pause ein. »Ich bin es leid, nach Lust und Laune der Götter in Zeit und Raum herumgeworfen zu werden.« Sie wandte sich der Höhlenwand zu, die
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