Die Hoehle der Traenen
sagte sie, »ich bin immer hier.«
Linde lächelte und sagte zuckersüß, sie werde bald wiederkommen. Kaum war sie aus der Tür hinaus, beschimpfte sie mich, ich sei grob gewesen, dumm, hätte nicht erkannt, dass wir von Freite hätten so viel lernen sollen, wie wir nur konnten.
»Das, was sie lehren könnte, will ich nicht lernen«, sagte ich und schauderte dabei. Es stimmte. Außerhalb des Hauses fühlte ich mich rein, und das ließ mich erkennen, dass ich mich drinnen dreckig und schmutzig gefühlt hatte, auch wenn die Böden makellos gewesen waren und das Glas schimmernd. Es war Freite, die sich schmutzig angefühlt hatte, ein fest auf ihrer Seele haftender Schmutz, der sich über alles ausbreitete. Das sagte ich Linde auch.
Der Streit, der sich daran anschloss, hätte bestimmt angedauert, bis wir zuhause waren. Doch als wir zwischen den Eibenbäumen entlanggingen, trat ein Junge hervor und stellte sich vor uns. Er hatte rotbraunes Haar, haselnussbraune
Augen, war jünger als wir, sah aber nicht schlecht aus und war gut gekleidet. Linde nahm dies alles mit einem flüchtigen Blick wahr, lächelte und verbeugte sich. Doch er sah mich an, und ich sah auf seine blassen Wangen und in die müden Augen.
»Komm nicht wieder«, sagte er. »Sie will deine Macht.«
»Was für eine Macht?«, fragte Linde scharf. »Brea hat überhaupt keine Macht.«
» Du weißt es«, sagte er und hielt den Blick auf mich gerichtet. »Halte dich fern von ihr.«
Ich nickte, und er trat zurück zwischen die Bäume. Linde machte einen Schritt nach vorn, um zu sehen, wohin er gegangen war, doch es war nichts mehr von ihm zu sehen.
»Was war das denn jetzt?«, wollte sie wissen. »Kennst du ihn?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Was für eine Macht?«
Da war es, das Geheimnis, das ich nie mit jemandem geteilt hatte, nicht einmal mit Linde. Das beschämende Geheimnis, das in mir schlummerte. Die Macht, die nur Wanderer besaßen, nur die Menschen mit verunreinigtem Blut, deren Blutlinie nicht rein war. Ich schaute meiner blonden Base in die Augen und log.
»Ich weiß nicht, wovon er gesprochen hat«, versicherte ich ihr. »Ich weiß nur, dass sie eine unheimliche alte Frau ist, die ständig versucht hat, mich zu betatschen. Und du weißt ja, was Großmutter uns über Frauen wie sie erzählt hat.«
Das reichte aus, um sie abzulenken: eine Mädchenliebhaberin oder eine Mädchenhändlerin, die nach einer Blondine Ausschau hält, die sie mit einem Schiff in die Hurenhäuser der Wind Cities bringen lassen kann; beide Möglichkeiten nährten Lindes Fantasie. Ihre Eitelkeit sagte ihr, dass Freite sie haben wollte, nicht mich, und dass sie selbst in größter
Gefahr schwebte. Das verschaffte ihr einen angenehmen Nervenkitzel. Aber eine Närrin war meine Base nicht. Die Gefahr war echt und sorgte dafür, dass sie sich von Freite fernhielt. Die Angst, von ihr benutzt, von ihr befleckt zu werden, hielt auch mich von ihr fern.
Dann wurde Linde verheiratet, und ich vermisste sie tatsächlich. Nicht sie selbst, sondern die Zeit und den Freiraum, den ihre Gesellschaft mir ermöglicht hatte. Ich wurde in die alltägliche Arbeit der Haushalte mit einbezogen und übte mich ausgiebig in den Pflichten einer Gattin, den Pflichten der Frau eines Offiziers.
Doch es war, als hätten Freites Augen und die Worte des jungen Mannes die Macht tief in mir, wo ich sie vergraben hatte, geweckt. Immer häufiger wusste ich Dinge, bevor man sie mir erzählte, konnte in den Augen von anderen lesen und ihre Gedanken so klar erkennen, als hätten sie zu mir gesprochen. Nun pries ich Linde. Unser Leben der Verstellung war eine perfekte Vorbereitung hierfür gewesen. Nicht zu zeigen, was ich wirklich war.
Falls ich einen Gatten bekommen wollte, musste ich mich verstellen. Niemand würde eine Frau mit Wandererblut in den Adern freien; das würde Schande über die gesamte Familie bringen, die Ehechancen meiner Brüder und Schwestern verderben, vielleicht sogar dazu führen, dass man meinem Vater das Land wegnahm. Kriegsherren trauen Wanderern nicht.
Und das sollten sie auch lieber nicht, denn in meinem Inneren stieß ich Schicht um Schicht auf Täuschung. Alles an mir war eine Lüge. Mein Aussehen, meine Rede, mein Lächeln, alles außer meinem Verlangen, dass mein Vater einen Mann für mich finden würde, damit ich mein eigenes Zuhause und meine eigene Familie haben würde.
O ja, er fand einen für mich, und die Ironie des Schicksals
lag darin, dass er glaubte, mir einen
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