Die Hoehle der Traenen
können wir nicht älter als sieben oder acht gewesen sein.
Linde kletterte auf die Möbel und schaute durch einen Schlitz in der Wand in den goldenen Herbstnachmittag hinaus. »Das ist es nicht wert«, sagte sie. »Mit dir zu kämpfen, ist es nicht wert, das Nusssammeln zu verpassen.«
Ich stimmte ihr zu.
»Wir sollten es nicht mehr tun«, sagte sie. »Wir sollten nicht vor ihren Augen streiten.«
»Ich kann dich nicht leiden«, antwortete ich.
»Ich kann dich auch nicht leiden«, blaffte sie zurück. »Aber das müssen sie nicht wissen.«
Das war für mich eine bis dahin ungeahnte Möglichkeit, die Vorstellung von Täuschung. Linde dagegen hatte schon lange Zeit gelogen. Das war einer der Gründe, warum wir miteinander stritten – sie schob mir die Schuld für etwas zu, das sie selbst verbrochen hatte. Ich erkannte eine Möglichkeit, dem einen Riegel vorzuschieben. Ich weiß noch, dass ich mir in diesem Augenblick sehr schlau und ausgefuchst vorkam, zufrieden mit mir selbst, wie kleine Kinder es zuweilen sind.
»Ich werde aufhören, mich mit dir vor ihren Augen zu streiten, wenn du aufhörst, mir Ärger zu verursachen«, bot ich an.
Sie dachte darüber nach. Dann glitt sie von der Truhe herunter, auf der sie gestanden hatte, und trat auf mich zu. Sie spuckte sich in die Hand und hielt sie mir entgegen. Ich spuckte in die meine, und wir besiegelten die Vereinbarung. Und von da an galten wir als beste Freundinnen, die besten auf der Welt, auch wenn wir uns insgeheim anschnauzten und kratzten.
Es war die perfekte Übung für die Ehe.
Weil wir ständig zusammen – und daher immer in Begleitung – waren, durften wir länger draußen sein als die anderen Mädchen. Und wir lernten immer besser, uns zusätzliche Stunden zu erschleichen, uns davonzuschleichen und die Orte zu erkunden, an denen wir nichts verloren hatten. Es brachte beiden von uns Zeit zum Alleinsein ein, da sie nach einer Weile unsere Geschichten nicht länger überprüften
und wir allein losziehen konnten, immer mit einem Alibi zur Hand.
Bei einem solchen Streifzug stieß Linde auf das Haus der Zauberin, zurückgesetzt von der Straße gelegen, an einer kleinen, von Eiben gesäumten Auffahrt.
Freite hieß sie, und sie war zwar dunkelhaarig, aber keine Wandrerin, weil Wanderer blasse Haut haben, ihre jedoch rotbräunlich war, eher wie die aus den Wind Cities. Daher waren wir unsicher, wie wir uns verhalten sollten, als sie uns zu sich einlud. Eine Wandrerin hätten wir verachtet. Aber eine Exotin wie Freite …
Wir tranken Tee mit ihr in einem üppig eingerichteten Zimmer voller Teppiche und Kissen, und in den Regalen schimmerte Glas. Da gab es mehr Glas, als ich sonst irgendwo gesehen hatte, mehr als der Kriegsherr in seiner Halle hatte.
Linde war fasziniert. Hier lebte eine Frau, die ein eigenes Haus hatte, eine Frau, die, wie sie uns versicherte, ihre eigenen Entscheidungen treffen konnte. Eine Frau mit Macht. Wie alt sie war, war schwer zu sagen, aber alt war sie schon, obwohl sie keine Falten im Gesicht hatte.
Linde wünschte sich alle Arten von Macht, die es gab. Aber Freite lächelte immer nur, wenn Linde Fragen stellte. Es war, als fische sie nach etwas, als benutze sie Linde dazu, etwas zu bekommen, was sie haben wollte. Linde war es nicht. An Linde war sie nicht interessiert, auch wenn meine Base diese Wahrheit nicht erkennen konnte. Freite wollte mich.
Ein halbes Dutzend Mal machte sie Anstalten, als wolle sie mich berühren, nicht aus Lust, so wie ein Mann berühren würde, sondern es war nur eine Geste. So tätschelte sie mir den Arm, um meine Aufmerksamkeit zu wecken, oder langte zu mir herüber, um mir ein Haar aus dem Kragen zu
zupfen. Ich zog mich jedes Mal zurück, irgendwie davon überzeugt, dass eine Berührung durch sie zu nichts Gutem führen würde. Im Laufe der Zeit wurde ihr Blick immer zorniger und dunkler, und ich wurde nervös.
»Wir müssen wieder zurück«, sagte ich zu Linde. Doch die war so eigenwillig wie immer, hatte sich darauf versteift, diese Frau dazu zu bringen, etwas zu offenbaren, irgendetwas, wie sie in diese wunderbare Position gekommen war, auf eigenen Füßen zu stehen, ein eigenes Vermögen zu haben, ohne einen Mann, der sie kontrolliert hätte.
Ich stand auf und sagte energisch: »Wir müssen jetzt gehen.«
Linde starrte mich zornig an, kam aber mit. So war unsere Vereinbarung – wir stritten uns nicht, nicht einmal vor einer Fremden. Freite bot uns an, wiederzukommen. »Jederzeit«,
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