Die Hoehle der Traenen
Macht«, erwiderte er.
Breas Geschichte
Wir beginnen alle unterschiedlich, doch wir enden am gleichen Ort.
Das sagte meine Mutter immer nach einem Begräbnis zu mir, nachdem der Fels wieder vor die Grabhöhle gerollt worden war. Doch mir scheint, dass wir schon früher zu dem gleichen Ort kommen, ganz gleich wie unser Leben verläuft, ganz egal ob wir reich sind oder arm, geliebt oder ungeliebt.
Wir kommen an den Ort, an dem wir der Todesfee zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht entgegentreten und entscheiden, ob wir sie als Verbündete annehmen oder nicht.
Wir waren zu zweit; und oberflächlich betrachtet konnte man uns kaum unterscheiden, meine Cousine Linde und mich. Wir waren im gleichen Jahr geboren, nur wenige Tage auseinander.
Wir waren auf gleiche Art aufgewachsen – wir konnten die Kleidung der anderen tragen und taten dies auch, und von hinten konnte uns kein Mensch auseinanderhalten, denn wir hatten beide die gleichen weizenfarbenen Locken, und wir machten einander das Haar in jenem Knoten zu Zöpfen, der Maiden’s Prayer heißt, Jungferngebet. Von vorn – nun, Linde war immer schon hübscher als ich, keine Frage, aber ihre Figur war nicht so gut, sodass ich die Jungs bekam, die
auf den Körper eines Mädchen schauten und sie diejenigen, die ihr Gesicht betrachteten. Das störte mich nicht. Wenn ein Junge meine Brüste betrachtete und sich sein Atem beschleunigte, fühlte ich mich stark und lebendig, berauscht von Macht. Damals war das die einzige Macht, die ich in mir erkennen konnte. Wer kein Recht hat, Entscheidungen zu treffen, hat keine wirkliche Macht, und ich hatte kein solches Recht, das darüber hinausgegangen wäre, zu entscheiden, wie ich mein Haar flocht.
Unsere Väter waren Zwillinge, alle beide Offiziere des Kriegsherrn, so wie ihre Väter und deren Väter es schon gewesen waren. Ihre Ländereien grenzten aneinander. Sie hatten ihre Häuser jeweils an der Grenze ihres Landes gebaut, damit sie nah beieinander waren, und daher wuchsen Linde und ich und unsere Geschwister in zwei Häusern auf, und beide waren unser Zuhause.
Töchter von Offizieren suchen sich ihre Gatten nicht selbst aus. Ehe bedeutet mehr als vier Beine in einem Bett, sagte meine Großmutter immer zu mir. Deine Aufgabe besteht darin, Bündnisse für diese Familie zu schmieden. Diese Bündnisse machen uns stark und lassen uns in Sicherheit leben, das ist die wichtigste Aufgabe in deinem Leben, sagte sie.
Und meine Mutter nickte freundlich; sie war selbst quer durch die Domänen geschickt worden, um meinen Vater zu heiraten, um ein Bündnis zwischen unserer Familie und der Cliff Domain zu festigen. »Gemessen an Familie, Kindern, Sicherheit, Loyalität und Stärke zählt Liebe nicht«, sagte sie. Sanft berührte sie dabei meine Zöpfe. »Und du musst deinem Vater vertrauen, dass er dir einen so guten Gatten aussucht, wie meiner es bei mir getan hat.«
Ich lächelte. Wie sehr meine Eltern einander liebten, war in der ganzen Domäne sprichwörtlich. Heute erkenne ich,
dass das schlecht für mich war. Ich wuchs in der Erwartung auf etwas auf, das besser war, als ich es würde jemals bekommen können, da ich wie alle Mädchen aus strategischen Gründen zugeteilt werden würde.
Immerhin war ich nicht hässlich, und ich würde verheiratet werden, anders als meine Tante Silv, die eine Hasenscharte hatte und schielte und meist in der Küche und der Kleiderkammer arbeitete. Niemand hatte je versucht, sie zu verheiraten.
Linde ging als Erste. Mein Onkel fand einen jungen Mann für sie, einen Offizier aus der Western Mountain Domain mit kastanienbraunem Haar, einen jener Offiziere des Kriegsherrn, die in der Festung lebten. Cenred, der Kriegsherr, war alt, und dieser Offizier war einer der besten Freunde seines Sohns, sodass er eine gute Partie war. Der Bräutigam hieß Aden, und er kam mit rotem Kopf vorbei, um sie abzuholen.
»Wie du sie vermissen wirst!«, sagten die Tanten alle, da Linde und ich all unsere Zeit miteinander verbrachten. Aber wenn sie sich abwandten, kämpften wir wie die Wassergeister miteinander. Sie und ich, wir lebten ein mehrschichtiges Leben. Nach außen hin waren wir die netten Mädchen, die gehorsamen, freundlichen, glücklichen Mädchen. Unter der Oberfläche ging mehr vor sich, und das war schon immer so gewesen.
Wir hatten eines Nachmittags beschlossen, es auf diese Weise zu halten, als wir beide in Lindes Zimmer geschickt worden waren, weil wir einander an den Haaren gezogen hatten. Damals
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