Die Höhle in den Schwarzen Bergen
Er bemühte sich täglich von neuem, seinen Vollbart in einen Knebelbart umzuformen, und blieb trotz aller Hänseleien hartnäckig bei diesem Bestreben. Er hieß Charles. Seiner Körperlänge und seiner Eitelkeit wegen hatte er irgendwann und irgendwo von Franzosen den Spitznamen Charlemagne, Karl der Große, erhalten, und dieser Name war ihm geblieben, obgleich die meisten seiner englisch sprechenden Gefährten den Spottnamen gar nicht verstanden.
Die beiden abgelösten Wachtposten kamen eilig auf den Ingenieur zu. Als sie vor ihm standen, sagten sie aber nichts, sondern schauten ihn nur an wie Hunde, die Schelte erwarten.
»Was ist?« fragte der Ingenieur, schon ärgerlich über die Gesichter, noch ehe er etwas erfahren hatte. »Wo bleibt Tom?«
Die Antwort war ein Achselzucken.
»Wo Tom steckt, will ich wissen!«
»Er ist eben nicht da.«
»Eben nicht da! Eben nicht da! Schöne Antwort erfahrener Grenzer, das muß ich sagen. Tot oder lebendig er muß doch da sein.«
»Eben nicht.«
»Männer, haltet mich nicht unnütz auf! Was ist geschehen?«
Wieder kam das Achselzucken.
»Gestern abend ist Tom auf Wache gegangen. Das steht fest. Und nun?«
»Ist er nicht mehr da.«
Der Leiter der Expedition öffnete die Lippen, schnappte nach Luft, machte den Mund wieder zu, ohne alles zu sagen, was er gern gesagt hätte, und fragte schließlich nur: »Wann habt ihr bemerkt, daß Tom eben nicht mehr da ist?«
»Als wir beim Morgengrauen nach ihm riefen. Wir wollten zusammen mit ihm hierherkommen.«
»Und was ist da, wo er nicht mehr ist? Seine Leiche? Oder die Spuren seiner Gefangennahme?«
»Sein Hut und seine Stiefel sind noch da.«
»Sein Hut und seine Stiefel, so. Gebt ihr euch eigentlich des Nachts nie gegenseitig Zeichen, ob noch alles in Ordnung ist?«
»Aber gewiß, Sir.«
»Wann habt ihr euch das letztemal mit Tom verständigt?«
»Zwei Stunden vor Morgengrauen.«
»So, da war er also noch da. Und dann? Hat er sich in Rauch aufgelöst oder ist in die Erde versunken oder durch die Luft davongeflogen und hat Hut und Stiefel für seine Erben hinterlassen? Oder wie habt ihr euch das gedacht?«
»Vielleicht wollte er heim? Manchmal kriegt einer einen Koller und läuft einfach davon.«
»Das ist auch ein Gedanke. Desertiert sozusagen. Und der Anlaß?«
»Er wollte doch schon lange nicht mehr. Kleiner Laden in einer Grenzstadt, das war sein schöner Traum. Bißchen handeln wollt’ er, bißchen Gewinn machen, seine Ruhe haben. Die Sehnsucht bohrte schon seit vorigem Jahr in ihm, seit dem großen Sandsturm. Aber das Geld reichte nie recht für ’nen Laden, er hatte auch keine Ware zum Anfangen …«
»Vielleicht ist die heute nacht vom Himmel gefallen, wie? So daß er jetzt einen Laden aufmachen kann?«
»Man weiß ja nicht. Manchmal, wenn einer zu lange an was denkt und ihm die Sonne und der Wind das Gehirn ausdörren, und die Indsmen machen ihn nervös, dann wird er verrückt.«
»Und Toms Pferd? Wo ist das?«
»Hier.«
»Hier?! Und Tom rennt zu Fuß ohne Hut und Schuhe in die Steppe hinaus? Das könnt ihr einem anderen erzählen! Aber nicht mir! Kommt, ich sehe mir das an. Habt ihr Hut und Schuhe so liegenlassen, wie ihr sie gefunden habt?«
»Ja, Sir.«
»Also doch noch einen lichten Augenblick gehabt.«
Der Ingenieur machte sich mit den beiden schwerbewaffneten Grenzern auf den Weg zu der Bodenwelle, nördlich des Bachs, auf der Tom des Nachts Wache gehalten hatte. Die beiden Grenzer führten den Ingenieur im Bogen, so daß keine Spuren verdorben werden konnten, und dann hinauf auf den Höhenrücken. Als der Kamm erreicht war, sah der Ingenieur den ledernen Schlapphut und die hohen Stiefel im Grase liegen. Sie waren so gelegt, daß der Hut genau die Stelle bezeichnete, wo sich der Kopf eines liegenden Mannes, die Stiefel die Stelle, wo sich seine Füße befunden haben konnten.
»Wie präzise und ordnungsliebend!« sagte der Ingenieur wütend. »Habt ihr Spuren gefunden?«
»Nein.«
»Also muß er die Stiefel ausgezogen haben, um sich besser wegschleichen zu können. Verrückt! Vollständig verrückt! Auf wen soll man sich denn noch verlassen in dieser Prärie hier!« Er ging zu der Stelle hin, wo Hut und Stiefel lagen, und hob die drei Gegenstände der Reihe nach hoch, um sie von allen Seiten zu betrachten. »Kein Blut zu sehen, kein Kampf zu vermuten! Läuft einfach weg! Hat man so etwas schon gehört!«
Der Ingenieur hatte eben ausgesprochen, als ein leises Schwirren durch die Luft
Weitere Kostenlose Bücher