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Die hölzerne Hedwig

Die hölzerne Hedwig

Titel: Die hölzerne Hedwig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: zu KLAMPEN
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vor ihnen ging ein Trommler, der im eintönigen Rhythmus auf das vor den Bauch gebundene Instrument schlug. Das Geräusch war
     dumpf und trug weit. Der Zug war überschaubar, mehr als 50 Menschen waren es nicht. Aber die Fahnder aus der Stadt waren nicht
     darauf gefasst gewesen, und die Trommel schlug so dumpf. Spontan empfand die Kommissarin die Atmosphäre als bedrohlich, obwohl
     die Bestandteile nicht danach waren: Fackeln, Kutten, die Trommel. Man sah die Gesichter nicht, das war irritierend. Menschen
     ohne Gesichter verhießen nichts Gutes.
    Küchenmeister stieß seine Kollegin in die Seite. Bevor der Trommler sie passiert hatte, sah sie es auch: Die Trommelstöcke
     waren Knochen. Nicht nur das war unheimlich: Es gab auch keine Zuschauer. Wenn ein Umzug stattfindet, stehen Menschen am Rand
     des Weges. Sie sind laut oder leise, fröhlich oder andächtig. Aber Menschen sind zugegen. Hier nicht. Es gab nur den Zug und
     die Fackeln, sonst nichts. Die drei vor dem Eingang des Polizeipostens waren die einzigen Zuschauer.
    »Was murmelst du?«, fragte Küchenmeister den jungen Cop.
    »Die hölzerne Hedwig«, antwortete Marvin. »Heute ist die |170| Nacht zu Ehren der hölzernen Hedwig. Ich bin immer dabei. Nur heute nicht, weil ich mich um euch kümmern muss.«
    »Hölzerne Hedwig«, so hieß der Gasthof. An der Außenwand hing eine Tafel mit historischen Informationen. Ein halbes Dutzend
     Mal war die Kommissarin daran vorbeigekommen, nie hatte die Zeit gereicht, um stehenzubleiben.
    »Wo wollen die hin?«, fragte die Kommissarin.
    Hedwig war die Patronin des Orts, vor 500 Jahren war sie den Märtyrertod gestorben. Verfolgt von Häschern, die ihr Hexerei
     und Widerstand gegen die Herrscher vorwarfen, war Hedwig aus dem Osten geflüchtet. Die meisten Verfolger hatten irgendwann
     aufgegeben, die Fährte oder die Lust verloren. Einer nicht. Von der Region um die Elbe im heutigen Sachsen-Anhalt war die
     Hatz ausgegangen, tagelang, wochenlang. Wenn Hedwig sich versteckte, war sie verraten worden und musste weiterziehen. Ihr
     Ende hatte sie an einer Stelle gefunden, die zwei Kilometer außerhalb des Orts im Wald lag. Erschlagen hatten sie die wehrlose
     Frau, an der Stelle, wo heute eine Eiche stand, deren Alter nicht ganz 500 Jahre betrug. Aber so genau wollte es niemand nehmen,
     angeblich handelte es sich um einen imposanten Baum, der schon für Bildbände fotografiert worden war, knorrig und mit Ästen,
     die kein Laub mehr trugen und deshalb besonders bizarr wirkten.
    Die Eiche war das Ziel des Zuges, dort warteten die Menschen. Dass die Kommissare sich anschlossen, bedurfte keiner vorherigen
     Beratung. »Das lass ich mir doch nicht entgehen«, murmelte Küchenmeister frohgemut. »Endlich treffe ich lebendiges Mittelalter,
     grausame Mönche, blutige Ritualmorde. Darauf freue ich mich seit Jahren. Marvin, du bist für |171| uns verantwortlich. Wenn ich mir im Dunkeln den Fuß verstauche, wirst du deines Lebens nicht mehr froh. Auf geht’s.«
     
    Der Zug kannte den Weg. Die Trommel und das Geräusch der Schritte, sonst nichts. Der Kommissarin wurde bewusst, was sie noch
     vermisst hatte: Touristen, Besucher von außerhalb. Jeder Ort, mochte er noch so klein und unbedeutend sein, machte heutzutage
     ein Bohei um seine Traditionen.
    »Sie wollen keine Fremden«, berichtete Marvin. »Sie sagen, das ist unsere Geschichte, die geht niemanden etwas an.«
    »Aber die Umsätze, die Übernachtungen!«
    »Interessiert nicht. Bei uns waren nie Touristen. Warum sollte man ausgerechnet heute Fremde vermissen? Ihr müsst euch nicht
     fürchten, ich habe meine Dienstwaffe dabei.«
    »Wovor sollten wir uns denn fürchten, Marvin?«
    »Weiß auch nicht. Ich wollte nur einen Satz sagen, in dem meine Waffe vorkommt.«
    »Wenn du eines Tages eine Freundin hast, würde ich sie gern kennenlernen. Stellst du sie mir vor? Ich zahle auch dafür.«
    Marvin wusste nie, wann der Kommissar etwas ernst meinte und wann er Spaß machte. Die Kommissarin wusste es genau: Er machte
     nie Scherze.
    Niemand hatte den alten Baum angekündigt, plötzlich hatten sie ihn erreicht. Der Zug teilte sich und bildete einen Kreis,
     der sich zum Veteranen hin öffnete. Die flackernden Schatten ließen der Phantasie freien Raum.
    Die Kommissarin war fest davon ausgegangen, dass sich am Baum etwas ereignen würde: ein Programm, das sich jedes Jahr wiederholte.
     Gesang, Gejohle, Alkoholausschank. |172| Stattdessen ereignete sich einige Minuten nichts als

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