Die hölzerne Hedwig
den toten Rächer in den Karpfenteichen ab. Irena empfahl,
den Säugling zurückzulassen, bis sich die Wogen gelegt hatten. Ihn später zu entführen, wäre ein Kinderspiel. Auch Irena floh,
von unterwegs rief sie die junge Hebamme an.
»Sehr einfallsreich«, murmelte Macciato und trank aus. »Aber es handelt sich um pure Phantasie.«
»Wenn du eine bestimmte Menge an Wissen besitzt, gibt es Phantasie im traditionellen Sinn nicht mehr.«
»Sie meinen wirklich, ich könnte es gewesen sein?«
Die alte Hebamme stellte eine volle Flasche auf den Tisch |161| und sagte: »Wir machen uns alle Gedanken. Jeder baut sich sein Gebäude zusammen. Wir nehmen, was wir wissen und ergänzen es
durch das, was wir ahnen.«
»Aber ich war es, ja? Sie halten mich für einen Mörder?«
Er hätte jetzt gern ihr listiges altes Gesicht gesehen, aber die Schatten versteckten es.
32
Amanda Täuber trug die Kiste in den Kombi. Zwar würden sie erst am frühen Morgen zum Wochenmarkt aufbrechen, aber alles, was
über Nacht nicht in die Kühlung musste, wanderte schon am Vortag ins Auto. Sie warf die Katzen aus dem Wagen, die Viecher
nahmen robustes Verhalten nicht übel.
Mit einer Katze auf dem Arm kehrte Amanda ins Haus zurück. Gertrud und der Besuch saßen am Tisch. Amanda lud die Katze auf
Brügges Schoß ab. Er konnte gut mit Tieren und spielte mit dem brummenden Wesen.
Auf dem Tisch stand eine gemaserte Holzscheibe, fünf Zentimeter dick vom Stamm geschnitten. Im Angebot war Käse aus der Region.
Brügge aß mit frischem Brot und dick Butter.
»Bei euch möchte ich leben«, murmelte er kauend.
»Dann bring einen Kerl mit, sonst gibt es jeden Abend Streit, wer heute Dienst hat«, sagte Amanda. Sie kannten sich so gut,
dass herber Humor möglich war.
»Polizist sein ist Gift für den Magen«, murmelte er kauend. »Du isst immer auf dem Sprung. Meistens dann, wenn etwas |162| zu essen in Griffweite ist und nicht, weil du Appetit hast. Es gibt Menschen, die prinzipiell nicht beim Griechen essen. Hätte
ich mich danach gerichtet, wäre ich seit 30 Jahren tot.«
Am Nachmittag war die Kommissarin bei den Schwestern aufgetaucht und hatte nach Frauen gefragt, die für Bordon als Geliebte
in Frage kommen könnten. Gemeinsam war man alle Häuser durchgegangen, die Fahnderin verfügte über eine Karte, auf der jedes
Haus verzeichnet war.
»Unser eifriger Marvin«, sagte Gertrud. »Falls du mal ein Argument gegen Übereifer suchst, ich hätte einen Kandidaten.«
»Man fragt sich, wem der Junge etwas beweisen will«, murmelte Amanda. »Wenn er so viel Energie in sich verspürt, sollte er
in die Stadt ziehen und dort die Ganoven jagen.«
Plötzlich sahen beide Brügge an.
»Was ist?«, fragte er misstrauisch.
Aber sie hatten nur beide an das Gleiche gedacht: an einen jungen Kriminalbeamten, der vor 35 Jahren bei ihnen aufgetaucht
war, als sie gerade ihren letzten Karton zusammengefaltet hatten. Im Jahr, als der grässliche Dreifachmord passiert war, hatten
die Schwestern ihre Zelte im Dorf aufgeschlagen. Beide voller Tatendrang: Astrologin die eine, Lehrerin die andere. Sie waren
die Ersten gewesen, die Pendel und Klangschalen in großen Mengen aus Fernost bezogen hatten. Die Herkunft hatte nicht ganz
so weit im Osten gelegen wie die Kunden glaubten. Schon damals war der DDR-Außenhandel auf jede Westmark scharf gewesen.
Wochenlang war der junge Beamte bei den Schwestern aufgetaucht. Berufliche und private Gründe waren eine |163| pikante Verbindung eingegangen, und er hatte es erst dann gewagt, eine Affäre mit Amanda zu beginnen, nachdem die sich bei
seinem Vorgesetzten erkundigt hatte, ob es opportun sei, intime Beziehungen zu Zeugen einzugehen. Der Chef hatte geschäumt:
»Was ist so schwer daran, die Hose oben zu lassen?« So lange hatte er auf hohem moralischen Ross gesessen, bis er in die Fänge
einer attraktiven Fremden geraten war – noch während die Ermittlungen im Dreifachmord liefen. Als der Chef eines Abends unerwartet
seiner Nachwuchskraft Brügge in einem Haus begegnet war, in dem er sich mit seiner heimlichen Geliebten treffen wollte, war
ihm zu spät aufgegangen, dass Brügge mit der jüngeren Schwester liiert war, und der ach so moralische Chef mit der älteren.
Danach hatten die Männer 20 Jahre konfliktfrei und freundschaftlich zusammengearbeitet – auch als von den Schwestern nicht
mehr die Rede gewesen war.
»Was tut man nicht alles für seine kleine
Weitere Kostenlose Bücher