Die hölzerne Hedwig
Schweigen.
»War’s das?«, fragte Küchenmeister leise.
Eine Gestalt trat in den Kreis, sie trug eine Kutte wie alle anderen, der Kopf war frei. Popeye, der Ex-Seemann aus der WG,
ein Akkordeon vor der Brust. Er wandte sich der Eiche zu und verneigte sich. Dann spielte er: eine schöne, schwerblütige Melodie.
Die Kommissarin kannte das Stück nicht. Es war pures Gefühl, das Herz als Instrument, eine Ballade über Tapferkeit, Verrat,
Tod und Trauer.
Die Melodie war nicht aufwändig und nicht kompliziert, das erhöhte ihre Eindringlichkeit. Sie verwandelte alles, was hier
war: Fackeln, Kutten, Dunkelheit. Dann brach sie ab, und alle Lichter erloschen. Vom letzten Ton bis zur völligen Dunkelheit
war es weniger als ein Atemzug. Die Kommissarin erschrak wie seit Jahren nicht. Möglich, dass sie einen leisen Schreckensruf
ausstieß. Schwarz, Stille, nichts mehr. Die Zeit trat auf der Stelle und ein Paar Lippen traf die Wange der Kommissarin. Die
Lippen suchten ihren Mund. Die Kommissarin flüsterte: »Du bist ein toter Mann.« Die Lippen verschwanden.
Danach das Geräusch von vielen Füßen. Sie marschierten davon. Ohne Licht, ohne Taschenlampe, nicht einmal ein jämmerliches
Feuerzeug.
Die Kommissare fühlten sich eingehakt und eine Stimme sagte: »Ihr müsst euch nicht fürchten, ich bringe euch heil nach Hause.«
|173| VIERTER TAG
34
Ihr erster Weg führte sie zur Hedwigseiche. Sie war darauf eingestellt, Papier und Essensreste vorzufinden. Aber nichts deutete
darauf hin, dass hier gestern Dutzende Menschen herumgetrampelt waren. Zum ersten Mal sah sie die Eiche am Tage. Bizarr war
sie, die Äste gebogen und gegen jede Wahrscheinlichkeit wachsend. Der Baum war kein Riese, in der Nähe gab es höhere. Aber
kein zweiter war so ausdrucksstark gewachsen. Weil auf einer Seite die Blätter fehlten, verdeckte nichts das Kreuz und Quer
von Ästen und Zweigen. Der Stamm war dick, die Risse so tief, dass man Hand und Unterarm hineinstecken konnte. Wo der Blitz
eingeschlagen hatte, war die Öffnung breiter, ein Kind könnte sich hineindrücken und wäre unsichtbar.
In der Nähe der Eiche gab es keine Bank, keinen Papierkorb, weder Infotafel noch Schaukasten.
Dann war die Kommissarin nicht mehr allein. Ev stürzte sich auf sie, schwarz das Kleid, schwarz die Jacke. Ihre Haare frisch
gefärbt, pechschwarz.
»Kommen Sie, kommen Sie!«, rief Ev und zog die Kommissarin vom Baum weg. Das geschah so unerwartet und kraftvoll, dass die
sich erst nach einigen Schritten zu wehren begann.
»Lassen Sie das doch! Was soll das denn? Was haben Sie denn nur?«
|174| »Sie müssen das ernst nehmen!«, sagte Ev eindringlich. »Sie wollen nicht, dass das bekannt wird. Niemand darf es wissen. Sie
lassen keinen herein und keinen heraus.«
Die Kommissarin war keine schwache Frau, gegen einen Mann hätte sie sich kräftig gewehrt. Aber Ev war, obwohl zudringlich,
kein Mensch, gegen den man kämpfen wollte. Dass sie verzweifelt war, ließ sich nicht übersehen; dass sie glaubte, der Kommissarin
zu helfen, war ebenso klar, obwohl sie fünf Arme und Hände zu haben schien und an der Jacke der Ermittlerin zerrte.
»Beruhigen Sie sich doch«, sagte die Kommissarin, schon außer Atem.
Es half nichts, sie musste Ev nachgeben, anders war der Frau nicht beizukommen. Die Kommissarin wollte den Gedanken nicht
denken, aber es gab in diesen Momenten keinen Zweifel: Sie ist wahnsinnig.
Die Kommissarin ließ sich auf den Weg ziehen, fort von der Eiche. Als sie dachte, Ev werde sich nie mehr beruhigen, stellte
sie die Veränderung fest: Die drängende Frau wirkte entspannter, nicht mehr so rasend wie bisher.
»Das ist gut«, murmelte Ev. Warum war sie nicht außer Atem? Woher dieser Gleichmut in der Stimme, während ihr Körper doch
zitterte?
»Die verstehen keinen Spaß«, murmelte sie. »Sie können das nicht wissen, weil Sie nicht von hier sind. Alle Wege sind abgeschnitten,
die Autos fahren nicht mehr. Überall warten sie. Wer sich zu Fuß durchschlagen will, wird abgeschossen wie ein Hase.«
»Ev, Ev! Sie müssen sich beruhigen!«
»Glauben Sie, es ist einfach für mich, euch alle zu beschützen? |175| Glauben Sie, ich kann meine Augen überall zugleich haben? Wir kommen hier nicht mehr raus! Sie sind überall und wir sind allein.«
»Niemand bedroht uns! Wir können überall hingehen!«
Ev packte die Schultern der anderen und schüttelte sie. Nicht brutal und schmerzhaft, sondern eindringlich
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