Die hölzerne Hedwig
wäre.
Die Hebamme war beeindruckt, aber sie übertrieb es mit der Eile nicht. War das die Sturheit der Landbewohner oder schon Demenz?
Gingen hier alle so locker mit Tod und Sterben um?
Sie wurde auch schon wieder renitent: »Woher wissen Sie, dass ich Ihnen etwas sage, was stimmt?«
»Das erkenne ich daran, dass es uns erstens weiterhilft und es zweitens ins Puzzle passt. Vielleicht weiß ich erst morgen
oder übermorgen, dass Sie die Wahrheit gesagt haben. Wenn Sie aber wichtige Informationen zurückhalten und damit unsere Ermittlungen
behindern, machen Sie sich uns zum Feind. Und ich rede jetzt nicht von Marvin, mit dem Sie bekanntlich Yo-Yo spielen. Wir
können ziemlich sauer werden. Wenn erst die Medien Witterung aufnehmen, werden Sie viele Fragen beantworten müssen. Die Leute
von BILD und RTL können sich festbeißen, das mit der Unschuldsvermutung |255| sehen die nicht so eng. Und Respekt vor älteren Menschen? Ich bitte Sie! Praktisch sind Sie schon Hauptdarstellerin, es fehlt
nur noch der Film. Wollten Sie nicht schon immer wissen, wie es ist, Opfer einer Medienkampagne zu werden? Ich versichere
Ihnen: Das ist eine bleibende Erinnerung.«
Die junge Karolina ließ der Älteren Zeit, das eben Gehörte zu verdauen.
»Ihr glaubt, ihr seid die Guten«, murmelte die Hebamme. »Weil ihr das Recht auf eurer Seite habt und die Waffen und die Gewalt.
Ihr seid die Macht, wir sind die Menschen.«
»Ich bin so gut ein Mensch wie Sie.«
»Man braucht auch Menschen, die zielen und den Abzug drücken. Das mit den Menschen ist ein weites Feld.«
»Worauf wollen Sie hinaus? Klären Sie mich auf.«
»Nein, nein, keine Angst, ich will keine Reden halten. Ich will sagen: Es gibt ein Recht, das gilt nur für mich. Da redet
mir keiner rein. Ich arbeite seit 70 Jahren an meinem Recht und bin noch nicht damit fertig.«
»Und Ihr Recht steht über dem allgemeinen, richtig?«
»Nicht unbedingt. Aber es gibt Leute, die können Sie einschüchtern. Und es gibt Leute wie mich. Ich weiß, dass Sie oft mit
Ihrer Art Erfolg haben. Aber das heißt nicht, dass Ihre Art nicht widerlich ist. Selbstgerecht und neunmalklug. Räuber und
Gendarm eben, das alte Kinderspiel. Mancher wächst da nie raus und nennt das ganze, damit es nicht so kindisch klingt, ›Recht‹.
Oder noch schöner: ›Gerechtigkeit‹. Da pfeife ich doch drauf. Was Sie bei uns bestenfalls erreichen werden, ist, dass wir
Ihnen nicht widersprechen. Aber wir denken uns unseren Teil und zählen die Minuten, bis ihr wieder |256| in eure Stadt abdampft. Dort scheint das ja zu klappen, dieser Bluff. Recht! Ich bitte Sie!«
Oh, war die junge Karolina zornig. Sie war so zornig, dass sie zuerst gar nicht merkte, was die Hebamme ihr mitteilte.
»Ja, ich habe das Kind zur Welt gebracht, einen dummen, kleinen Menschen, der sich in 20 Jahren von einem Polizisten das Märchen
vom Recht und der Gerechtigkeit anhören wird. War keine Staatsaffäre, junge Amerikanerinnen haben die idealen Körper und Köpfe
fürs Gebären. Sie machen sich nicht viele Gedanken, sie schütten alles aus und putzen sich die Nase. Komplizierter ist das
nicht. Ich bin gegangen, bevor sie anfing, über den Namen nachzudenken. In meinen Träumen heißen alle törichten Frauen Jacqueline.«
»Sie sind sofort gegangen, als das Kind auf der Welt war?« »So ist es.«
»Und in Wahrheit?«
»In Wahrheit? Da bin ich noch fünf Minuten geblieben, weil der Vater auftauchte und mir etwas blass vorkam. Wäre nicht der
Erste gewesen, der vom Topf kippt, wenn er das Elementare sieht. Männer sind nicht darauf gefasst, wie es bei einer Geburt
zugeht.«
»Und Irena?«
»Die war natürlich da. Zwei Frauen sind nicht zu viel bei einer Geburt. Aber wem sage ich das?«
Da! Da war es wieder! Die Anspielung!
»Nein, ich habe kein Kind«, fauchte die Kommissarin. »Vielleicht werde ich auch keins mehr bekommen. Und ich weine mich nicht
jeden Abend in den Schlaf deswegen. Sind Sie jetzt zufrieden?«
|257| Die alte Karolina blickte sie lange an.
Mühsam fasste sich die Jüngere und sagte: »Gut, Frau Pape, wir machen Fortschritte.«
»Ich helfe, wo ich kann.«
»Sie haben niemanden vergessen? Wollen nichts nachbessern?«
Wie sie das Nachdenken inszenierte: theatralisch, lächelnd, überheblich. Sie genoss das Spiel.
»Das Kind war ein Mädchen?«
Nun war die alte Karolina doch verdutzt. Aber die Frage war unvermeidlich gewesen. Einen schrecklichen Moment war die Kommissarin
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