Die Holzhammer-Methode
Wohnort im Chiemgau lag rund 80 Kilometer von der Klinik entfernt. Und wenn ihr Mann abends bei ihrer Rückkehr noch nicht zu Hause gewesen war, hatte sie sich nie gewundert. Meistens hatte er sie schon vorher angerufen und etwas von «Computerproblemen» gemurmelt. Damit ließ sich heutzutage ja alles entschuldigen.
Sie fragte sich, was die Welt – oder der momentane Stand des Geschlechterdiskurses – jetzt von ihr erwartete: Trauer, Wut, Selbstverwirklichung? Sie hatte sich schon längst selbstverwirklicht. Sie hatte Karriere gemacht – und trotzdem immer versucht, ihrem Mann «ein Heim zu bieten», wie man das ja wohl nannte, wenn die Frau den Löwenanteil der Hausarbeit übernahm und mehrmals in der Woche abends kochte. Nun war dieses Heim leer. Sollte sie wirklich heute Abend dorthin zurückkehren? In den Klinkerbau in trügerischer Dorfidylle am Südufer des Chiemsees mit schmiedeeisernem Gartentor?
Ursprünglich war Christine ein Nordlicht. Sie war in Lübeck geboren und hatte in Hamburg studiert. Damals noch mit dem Ziel, eines Tages die gynäkologische Abteilung eines großen Krankenhauses zu leiten. Dort hatte sie auch ihren Mann – ihren zukünftigen Exmann – kennengelernt. Er hatte damals gerade an seiner Dissertation gearbeitet, sie war bereits im praktischen Jahr gewesen. Die angehende Gynäkologin und der angehende Orthopäde – einträglich und prestigeträchtig. Da die bildgebenden Verfahren in der Orthopädie immer wichtiger wurden, hatte sie sich schon damals an seine «Computerprobleme» gewöhnt. Einige Jahre später waren sie dann gemeinsam nach Bayern gegangen, ins Land der Reha-Kliniken mit Dubai-Flügel.
Christine hatte zunächst am Klinikum Traunstein in der Gynäkologie gearbeitet. Doch nach der hundertsten Mastektomie, der dreihundertsten Ovarektomie, dem tausendundersten Kaiserschnitt hatte sie plötzlich kein Blut mehr sehen können. Ihr wurde übel, wenn sie nur daran dachte, schon wieder in unversehrte Haut schneiden zu müssen, sich durch gelbliches Fettgewebe zu diversen Organen vorzuwühlen, irgendwas herauszuschneiden und am Ende einen Menschen zuzunähen wie ein gefülltes Hähnchen.
Deshalb hatte sie noch zwei weitere Facharztausbildungen drangehängt. Finanziell war das kein Problem gewesen, denn ihr Mann war zu diesem Zeitpunkt bereits in eine große Praxis eingestiegen und verdiente mehr als genug, um ein kinderloses Ehepaar zu ernähren. Jetzt war sie nicht nur Fachärztin für Gynäkologie, sondern auch für Psychotherapeutische Medizin und für Rehabilitationsmedizin. Und fünfundvierzig Jahre alt. So war sie vor einem Jahr hier in der Reha-Klinik gelandet. Die Leitung der psychosomatischen Abteilung war ihr quasi auf den Leib geschnitten und machte ihr meistens auch Spaß. Den langen Heimweg nach Rosenheim hatte sie gerne in Kauf genommen.
Als Christine aus den Tiefen ihrer Gedanken auftauchte, wurde ihr endlich bewusst, dass vor den Fenstern ihres Büros etwas Ernsthaftes passiert sein musste. Auf der großen Wiese liefen immer mehr Menschen zusammen, zwei Polizeiwagen und ein Krankenwagen waren auch aufgefahren. Aber was ging sie das schon an? Es betraf sie frühestens dann, wenn die Insassen des Krankenwagens so weit hergestellt waren, dass sie in der Reha-Klinik auftauchten. Endlich machte sie sich an das Gutachten über die katerbedingten Panikattacken ihrer neuesten Patientin.
Eine halbe Stunde nachdem Franz Holzhammer den Leichenfundort abgesperrt hatte, erschien endlich der Internist Dr. Emanuel Lieder. Man hatte ihn verständigt, weil seine Praxis dem Ort des Geschehens am nächsten lag. Doch der Tote, der ihm da beinahe in den Schoß gefallen wäre, interessierte ihn nur mäßig. Die öffentliche Hand bezahlte seiner Meinung nach viel zu wenig für diese Einsätze. Und in seiner Praxis musste er derweil Patienten warten lassen. Die Verletzungen, die vom Sturz herrührten, hatte er schnell gefunden und beschrieben. Bruch des ersten und zweiten Halswirbels inklusive Abriss aller relevanten Gefäße. Selbstverständlich eine tödliche Verletzung. Theoretisch sollte bei einer Leichenschau die Leiche vollständig entkleidet, bei geeigneter Beleuchtung begutachtet und an allen Körperöffnungen untersucht werden. Aber Dr. Lieder war sicher, einen Unfalltoten vor sich zu haben. Das sagte er Holzhammer.
«Bericht brauch ma trotzdem», erklärte der Hauptwachtmeister. Er mochte den Arzt nicht, der seiner Meinung nach etwas zu wenig Idealismus an den Tag
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