Die Holzhammer-Methode
Weibchen hatte sich für einen entschieden, und im März hatte sie angefangen zu brüten.
Am Anfang hatten die Beobachter mit ihren extra starken Ferngläsern noch nichts sehen können. Aber die Verhaltensänderung war eindeutig: Nach fünfundvierzig Tagen brachte der Adlervater zunehmend mehr Futter an, und es wurde klar, dass Frau Adler nicht nur selbst davon fraß, sondern auch ihren Nachwuchs damit fütterte.
Ende Juni war es so weit gewesen, dass nicht mehr ständig ein Elternteil den Nachwuchs wärmen musste. Und einige Tage später hatten die Naturforscher verwundert an ihren Fernrohren herumgeschraubt. Konnte das möglich sein? Da befanden sich zwei gesunde Küken im Nest, was bei Steinadlern sehr ungewöhnlich war.
Bald machten beide erste Flugversuche, Anfang August ließen sie sich zum ersten Mal gemeinsam mit ihren Eltern vom Aufwind weit über den Horst hinauftragen. Im Tal stießen die Ranger auf das erfolgreiche Brutpaar an. Doch sie wussten, dass erst der folgende Winter die letzte große Hürde für die jungen Adler darstellen würde. Wenn die vierköpfige Adlerfamilie im Spätwinter nicht genug Fallwild fand, würde sie unweigerlich dezimiert werden.
Der Herbst kam mit seinen Wanderermassen. Der Winter kam mit seinen Skitourengängern. Das Frühjahr kam mit neuem Leben. Und dann war schon der nächste der Sommer da.
Anfang August saßen Christine und Matthias mit Holzhammer und einigen Bekannten vor der neuen Gartenhütte des Polizisten. Gerade ließen sie die Ereignisse des letzten Sommers noch einmal Revue passieren. Da betrat ein Mitarbeiter des Nationalparks den Garten. Als der Ranger mit einem Weißbier versorgt war, holte er etwas aus der Brusttasche seines grünen Funktionshemds: einen kleinen glänzenden Gegenstand.
«Schau mal, was man so alles in Adlernestern findet», sagte er, an Holzhammer gewandt. Jedes Jahr, nachdem die Brutzeit beendet und die Adlerjungen flügge waren, stiegen Mitarbeiter des Nationalparks – oder von ihnen beauftragte einheimische Kletterer – in die Adlerhorste ein. Sie sammelten die Beutereste aus den Nestern, um mehr über die Zusammensetzung der Adlermahlzeiten zu erfahren, sowie einige Federn für die genetische Bestimmung der Verwandtschaftsbeziehungen.
«Das ist ja der Ring der Hexe!», rief Christine, die danebensaß, und griff nach dem unverkennbaren Stück mit den verflochtenen Bändern aus Weiß- und Gelbgold.
«Ich habe sie mal darauf angesprochen, den hat sie sogar bei der Gartenarbeit getragen», erklärte sie den andern.
«Dann ist sie also nicht über das Steinerne Meer entkommen», schloss Matthias.
«Das wollte sie doch auch gar nicht, denk an den Abschiedsbrief», meinte Christine.
«Ein paar der Knochen, die ihr dieses Jahr eingesammelt habt, werden wohl Menschenknochen sein», überlegte Holzhammer. «Ich vermute mal, mindestens eine Hand oder ein Finger wird dabei sein. Aber wenn ich euch jetzt alle Knochen konfisziere, bringt das ja auch nichts. Ihr bestimmt doch sowieso, von welchen Tieren die sind, oder? Dann gebt die menschlichen einfach hinterher bei der Polizeistation ab, damit wir einen DNA -Test machen und die Akte endgültig schließen können.»
«Da hat sie am Ende ihres Lebens ja doch noch was Gutes getan», sagte Matthias. «Sie hat den Adlern durch den Winter geholfen.»
«Wo ihre Leiche wohl liegt?», fragte Christine.
«Irgendwo abseits vom Weg, vielleicht in einer Spalte im Karrengelände oder in einem kleinen nordseitigen Kar, in dem der Schnee sich bis in den Sommer hält», antwortete Holzhammer. Es gab viele Möglichkeiten.
«Die Adler, in deren Horst wir den Ring gefunden haben, nutzen fast das ganze Steinerne Meer», bestätigte der Ranger.
«Wird jetzt nach den restlichen Knochen gesucht?», fragte Christine.
«Nein, das hat keinen Sinn», antwortete Holzhammer. «Es sind schon öfter Menschen auf Nimmerwiedersehen in den Bergen verschwunden. Wenn wir alle Knochen finden wollten, die im Steinernen Meer in irgendwelchen Spalten liegen, hätten wir viel zu tun. Die Bergwacht sucht zwar auch noch eine Zeitlang weiter, wenn man schon vermuten muss, dass der Vermisste tot ist. Aber irgendwann ist Schluss.»
«Vielleicht sind die restlichen Knochen auch schon längst mit der Schneeschmelze in den Königssee gespült worden», überlegte Matthias.
«Ja», sagte Holzhammer. «Dann wurde die Hexe zu Fischfutter – und später als Saiblingsfilet von den Feriengästen auf St. Bartholomä verspeist.»
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