Die Hongkong-Papiere
Laird als einem seiner Adjutanten, und der nahm mich mit.«
»Das war sicherlich sehr interessant.«
Tanner brachte mühsam ein Lächeln zustande. »Ist es nicht üblich, daß man einem zum Tode Verurteilten eine Zigarette anbietet?«
»Das ist wahr.«
»Und ich bin doch zum Tode verurteilt, oder nicht?«
Jackson zögerte, dann holte er eine Schachtel Zigaretten heraus. »Genauso wie wir alle, Mr. Tanner.«
»Ich verrate Ihnen was«, sagte Tanner. »Geben Sie mir eine, und ich erzähle Ihnen von dem Tschungking-Abkommen. Vor vielen Jahren habe ich vor dem Laird meinen Schwur abgelegt, aber jetzt scheint es keine Bedeutung mehr zu haben.«
»Was hat keine Bedeutung mehr?« fragte Jackson.
»Nur eine, Doc. Es ist eine gute Geschichte.«
Jackson zündete eine Zigarette an und steckte sie Tanner zwischen die Lippen. Der alte Mann inhalierte, hustete und inhalierte erneut. »Mein Gott, ist das wunderbar.« Er entspann te sich. »Mal sehen, wann genau hat es angefangen?«
Tanner lag mit geschlossenen Augen da. Er war jetzt sehr schwach. »Was geschah nach dem Flugzeugabsturz?« fragte Jackson.
Der alte Mann schlug die Augen auf. »Der Laird war schwer verletzt. Das Gehirn, verstehen Sie? Er lag in Delhi im Kran kenhaus, war drei Monate lang im Koma, und ich blieb als sein Bursche bei ihm. Sie schickten uns per Schiff nach London zurück. Mittlerweile zeichnete sich das Ende des Krieges ab. Er verbrachte einige Monate in der Abteilung für hirnverletzte Armeeangehörige im Guy’s Hospital, aber er erholte sich nie mehr. Er hatte sein Gedächtnis fast vollständig verloren. Anfang 1946 war er dem Tod so nahe, daß ich seine Sachen zusammenpackte und sie nach Hause zum Castle Dhu zurück schickte.«
»Und ist er gestorben?«
»Ja, aber erst zwanzig Jahre später. Wir sind auf den Landsitz zurückgekehrt. Dort wanderte er umher wie ein Kind. Ich habe ihn betreut und ihm jeden Wunsch erfüllt.«
»Was ist mit seiner Familie?«
»Hm, er hat nie geheiratet. Er war mit einem Mädchen ver
lobt, das während der Bombardierung Londons 1940 ums Leben kam. Es gab eine Schwester, Lady Rose, obgleich jeder sie Lady Katherine nannte. Deren Mann war ein Baronet, der im Afrikafeldzug fiel. Sie leitete das Gut und tut es immer noch, auch wenn sie schon achtzig ist. Sie wohnt im Pförtner haus. Manchmal vermietet sie das große Haus während der Jagdsaison an reiche Yankees oder Araber.«
»Und das Tschungking-Abkommen?«
»Daraus ergab sich weiter nichts. Lord Louis und Mao sind nie mehr zusammengekommen.«
»Aber die vierte Kopie in der Bibel des Laird, die haben Sie doch gerettet. Wurde sie denn nicht den Behörden übergeben?«
»Sie blieb, wo sie war, nämlich in der Bibel. Das war letzt
endlich die Sache des Laird, und er hatte wenig Lust, irgend welchen Leuten überhaupt etwas zu erzählen.« Tanner zuckte die Achseln. »Und dann gingen die Jahre ins Land, und es schien am Ende nicht mehr so wichtig zu sein.«
»Hat Lady Katherine jemals davon erfahren?«
»Ich habe es ihr nie erzählt. Ich habe niemals mit jemandem darüber gesprochen, und der Laird selbst war nicht mehr fähig dazu. Außerdem, wie ich schon sagte, schien es keine Bedeu tung mehr zu haben.«
»Aber Sie haben es mir jetzt erzählt.«
Tanner lächelte matt. »Weil Sie ein netter Junge sind, der sich mit mir unterhalten und mir eine Zigarette gegeben hat. Es ist alles so lange her, Tschungking im Regen und Mountbatten und euer General Stilwell.«
»Und die Bibel?« fragte Jackson.
»Wie ich es erzählt habe, ich schickte all seine Habseligkeiten nach Hause, als ich glaubte, er würde bald sterben.«
»Demnach ist die Bibel jetzt in Loch Dhu?«
»So könnte man es ausdrücken.« Aus irgendeinem Grund begann Tanner zu lachen, und das führte dazu, daß er erneut würgen und röcheln mußte.
Während Jackson die Sauerstoffmaske hervorholte, ging die Tür auf, und Schwester Agnes führte ein Ehepaar mittleren Alters herein. »Mr. und Mrs. Grant.«
Die Frau eilte ans Bett und ergriff Tanners Hand. Er lächelte mühsam, atmete schwer, und sie begann mit leiser Stimme und in einer Sprache mit ihm zu reden, die Jackson noch nie gehört hatte.
Er wandte sich mit fragender Miene an den Ehemann, eine imposante, liebenswürdige Erscheinung. »Das ist Gälisch, Doktor. Sie haben miteinander immer Gälisch gesprochen. Er war zu Besuch bei uns. Seine Frau ist im vergangenen Jahr in
Weitere Kostenlose Bücher