Die Horde 1 - Der Daemon des Kriegers
äonenalten Finsternis zu erkennen.
»Vielleicht sind die Götter uns gewogen«, flüsterte Jeddeg, »und der Mistkerl ist dort unten krepiert.«
Tyannon hielt zur Abwechslung einmal den Mund. Stattdessen betrachtete sie aufmerksam die erschöpften, verzweifelten Gesichter um sie herum; alle bis auf das ihres Vaters, der sich weigerte, sie anzusehen.
Die Finsternis unter ihnen wurde schlagartig erhellt, als eine Flammenwalze durch den Gang auf sie zurollte und die Felswände auf ihrem Weg bersten ließ. Eine Hitzewelle drang aus der Grube. Sie stank nach Rauch und Schwefel, weshalb den Zuschauern Tränen in die Augen traten und sie heftig blinzeln mussten. Dann verzog sie sich wieder, und man hörte lautes Gebrüll.
Trotz der Hoffnungen der Gefangenen klang es nicht nach den Schreien eines Mannes, der im Herzen eines Infernos verbrannte. Nein, das waren Schreie blinder Wut, einer Wut, die man nicht mit Worten ausdrücken konnte. Doch während sie zusahen, loderte eine zweite Flammenwelle durch den Gang, gefolgt von dem Geräusch herabstürzender Steine. Staubwolken wälzten sich aus dem Loch am Ende der Grube, und das ganze Gebäude erzitterte. Die Wachsoldaten und Gefangenen sahen sich entsetzt an, als sie begriffen, dass Rebaine die Tunnel einstürzen ließ.
Tyannon blinzelte, und ihre Augen tränten bei dem Versuch, den Staub auf diese Weise herauszuspülen. Als sie wieder etwas sehen konnte, stand er vor ihr. Ein undurchdringlicher Schatten, der aus den Staubwolken heraustrat. Die schreckliche Axt hing von seiner rechten Hand herab, und von ihrer Klinge rieselten Stein und Staub. In der anderen Hand hielt er so etwas wie eine Kiste, die in mottenzerfressenen, schimmeligen roten Samt eingehüllt war. Die Gestalt strahlte eine beinahe mit Händen greifbare Wut aus, und die Gefangenen und Wachsoldaten wichen ehrfürchtig zurück.
Alle, bis auf einen: ein großer, breitschultriger Mann. Sein Haar war hellblond, fast weiß, und bis auf eine einzige lange Locke am Hinterkopf kurz geschoren. Er trug ein Kettenhemd, darüber einen schwarzen Kürass, ähnlich wie jener, den Rebaines andere Soldaten angelegt hatten. Sein kantiges Gesicht war von einer gezackten Narbe entstellt, die vom linken Ohr bis unter die Nase verlief. Er wich als Einziger nicht zurück, sondern blieb furchtlos stehen im Angesicht seines wütenden Herrn.
»Mylord?«, fragte Valescienn. Seine Stimme klang barsch und hatte einen Akzent, den Tyannon nicht einordnen konnte. »Es ist also nicht so gut gelaufen?«
»Gut? Gut?« Rebaine fuhr wütend zu seinem Ersten Leutnant herum. »Sieht es etwa aus, als wäre es gut gelaufen, Valescienn?«
»Nein, Mylord, aber …«
»Ein gottverdammter Schlüssel!« Rebaine schüttelte das von dem Tuch umhüllte Objekt vor Valescienns Gesicht, ohne darauf zu achten, dass er dem Mann zweifellos die Nase gebrochen hätte, wäre dieser nicht zurückgezuckt. »All diese Schriften, in denen er sich darüber ausgelassen hat, seine angeblich größte Errungenschaft! Glaubst du, er hätte es auch nur einmal für erwähnenswert gehalten, dass es dazu eines verdammten Schlüssels bedarf?«
Valescienn wurde blass. »Ihr meint …?«
»Nutzlos.« Rebaine trat zurück und ließ die Arme schlaff herunterhängen. »Es ist vollkommen zwecklos.«
Der blonde Mann riss die Augen weit auf, um sie dann wütend zusammenzukneifen. »Und nun? Wollt Ihr etwa andeuten, dass wir nicht nach Mecepheum vorrücken?«
»Mecepheum? Valescienn, wir können von Glück sprechen, wenn auch nur ein Drittel der Armee bei dem Versuch überlebt, aus dieser verfluchten Stadt zu entkommen! Wir …«
»Mylord!« Ein Soldat stürmte mit schweißüberströmtem Gesicht in den Raum und rutschte auf dem Müll und den Trümmern neben der Grube aus. »Mylord! Lorum greift an! Es sind Zehntausende! Adlige, Soldaten der Gilde …« Er verstummte und rang keuchend nach Luft.
Die Soldaten fingen an zu murmeln, jeder von ihnen dachte dasselbe. Aber wie üblich war es Valescienn, der die Courage aufbrachte, seine Gedanken laut zu äußern.
»Wir können nicht gewinnen, Mylord«, sagte er leise. Er redete mit der Rückseite von Rebaines Helm. »Diese Stadt ist eine Todesfalle. Sie wird uns ebenso wenig schützen wie diejenigen, denen wir sie weggenommen haben.«
Rebaine ließ die Schultern sinken, aber die Geste war unter seiner furchteinflößenden Rüstung nicht zu sehen. Er war gescheitert. Er hatte alles auf das Wissen gesetzt, dass hier der Sieg verborgen
Weitere Kostenlose Bücher