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Die Hornisse

Die Hornisse

Titel: Die Hornisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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sie weniger, um betrunken zu werden, und sie wußte, was das über den Zustand ihrer Leber aussagte. Am liebsten hätte sie einfach weitergetrunken, bis sie tot umgefallen wäre. Jeden Tag kam sie diesem Ziel ein Stückchen näher. Tränen stiegen ihr in die Augen, und es schnürte ihr den Hals zu, als sie ihren Sohn in der Küche wirtschaften hörte.
    Der Alkohol war seit dem ersten Schluck ihres Lebens ihr Feind gewesen. Mit sechzehn hatte Micky Latham sie eines Abends zum Lake Norman mitgenommen und sie mit Apricot Brandy betrunken gemacht. Vage erinnerte sie sich, daß sie im Gras gelegen hatte und die Sterne vor ihren Augen verschwammen. Er hatte sich keuchend und so ungeschickt an ihrer Bluse zu schaffen gemacht, als öffne er zum ersten Mal im Leben einen Knopf. Er war damals neunzehn und arbeitete in Bud's Autowerkstatt. Seine Hände waren voller Schwielen und lagen wie Pranken auf ihren Brüsten, die vor diesem Rausch noch niemand berührt hatte.
    In dieser Nacht verlor die süße Muriel ihre Unschuld, und das hatte nichts mit Micky Latham zu tun, sondern allein mit der Flasche in der braunen Tüte vom Supermarkt. Sie trank, ihr Kopf wurde leicht, und sie hätte singen können. Sie war glücklich, verspielt und witzig, und nichts machte ihr angst. An dem Nachmittag, als Officer Drew Brazil sie wegen überhöhter Geschwindigkeit anhielt, fuhr sie den Cadillac ihres Vaters. Muriel war siebzehn und das schönste irdische Wesen, das ihm je begegnet war. Sollte er an jenem Nachmittag Alkoholgeruch wahrgenommen haben, war er zu elektrisiert, um sich darüber Gedanken zu machen. Er sah prächtig aus in seiner Uniform, und ein Strafzettel wurde nie ausgestellt. Nach seinem Dienstschluß gingen sie zu Big Daddy's Fischhütte. Am Erntedankfest desselben Jahres heirateten sie, nachdem ihre Periode zwei Monate ausgeblieben war.
    Muriel Brazils Sohn kehrte mit gebackenem Käse auf diagonal geschnittenem Weizenbrot zurück. Der Käse hatte genau die Konsistenz, die sie mochte. Auf dem Tellerrand lag ein Klecks Ketchup zum Dippen. Auch ein Glas Wasser hatte er in der Hand. Aber das würde sie wohl stehenlassen. Er glich seinem Vater so sehr, daß sie es kaum ertragen konnte. »Ich weiß, wie sehr du Wasser haßt, Mom«, sagte er und stellte ihr den Teller auf einer Serviette auf den Schoß. »Aber du mußt es trinken. Einverstanden? Möchtest du bestimmt keinen Salat?« Sie schüttelte den Kopf und wünschte, sie könnte ihm danken. Doch sie war nur ungeduldig. Er nahm ihr die Sicht auf den Fernseher. »Ich bin in meinem Zimmer«, sagte er.
    Er setzte seine Schießübungen fort, bis die Blase am Finger geplatzt war und blutete. Er war erstaunlich zielsicher. Das viele Tennisspielen hatte die Muskulatur an Händen und Unterarmen gestärkt. Er hatte einen eisernen Griff. Am nächsten Morgen war er vor Erregung mit einem Sprung aus dem Bett. Draußen schien die Sonne. West hatte ihm versprochen, am späten Nachmittag wieder mit ihm zum Schießplatz zu fahren und ihn weiter zu trainieren. Es war Montag, und er hatte frei. Er wußte nicht, was er bis dahin tun und wie er die Zeit totschlagen sollte. Freie Zeit konnte Brazil nur schwer ertragen. Gewöhnlich hatte er immer irgend etwas vor. Als er das Haus um halb acht verließ, lag Tau auf dem Rasen. Er nahm seine Tennisschläger und ein paar Bälle mit, ging aber erst einmal auf die Laufbahn. Er lief zehn Kilometer, machte Liegestütze, Situps und Lockerungsübungen, um seinen Endorphinpegel auf den richtigen Stand zu bringen. Er legte sich ins Gras, das jetzt warm und trocken war, und wartete, bis sich sein Pulsschlag wieder gesenkt hatte. Er lauschte dem Summen der Insekten im Klee und atmete den Duft von grünem Gras und Bärlauch ein. Seine Shorts und das Tank-Top waren schweißnaß. Gemächlich machte er ach auf den Weg zu den Tennisplätzen.
    Ein paar Damen spielten Doppel. Er wollte ihr Spiel nicht stören und ging hinter ihnen vorbei bis zum letzten Platz, so daß er soweit wie möglich von allen anderen entfernt war. Niemand sollte sich von den Hunderten von Bällen belästigt fühlen, die er heute übers Netz zu dreschen beabsichtigte. Abwechselnd Aufschläge von rechts und links. Dann hob er die Bälle wieder auf und ließ sie in den knallgelben Sammelkorb fallen. Er war nicht ganz zufrieden mit sich. Tennis war ein Sport, der mangelndes Training einfach nicht verzieh. Seine gewohnte Präzision hatte nachgelassen, und er wußte, das war ein schlechtes Zeichen. Wenn

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