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Die Hornisse

Die Hornisse

Titel: Die Hornisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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noch nicht zu Abend gegessen. Es war wenige Minuten nach neun. Früher am Abend hatte er seiner Mutter vorgeschlagen, eine Portion Rindergehacktes und dazu Tomatensalat mit Frühlingszwiebeln und Italian Dressing anzurichten.
    Aber sie hatte abgelehnt. Wacher als sonst saß sie vor einer Sitcom, trug aber wie fast immer ihren ausgeblichenen blauen Morgenmantel und Pantoffeln. Es war ihm unerklärlich, wie sie so leben konnte. Aber er hatte es aufgegeben, sich darüber Gedanken zu machen, wie er sie oder das Leben, das sie so haßte, ändern könnte. Schon als er, ihr einziger Sohn, noch zur High School ging, hatte er erstaunliche detektivische Fähigkeiten entwickelt, wenn es darum ging, das Haus und den Cadillac nach versteckten Schnaps- und Tablettenvorräten zu durchforsten. Ihr Einfallsreichtum war verblüffend. Einmal hatte sie ihren Whisky sogar unter den Rosenbüschen vergraben, die sie in Zeiten, in denen ihr noch etwas daran lag, stets sorgfältig beschnitten hatte.
    Muriel Brazils größte Angst war es, da zu sein. Der Alptraum einer Entziehungskur, von Zusammenkünften der Anonymen Alkoholiker verdüsterte ihre Erinnerung wie ein monströser Vogel, der über ihr kreiste, mit seinen Krallen nach ihr griff und sie bei lebendigem Leib zu verschlingen drohte. Sie wollte nichts fühlen. Sie wollte auch nicht mit Leuten zusammensitzen, die nur Vornamen hatten und nur darüber sprachen, was für Trinker sie selbst einmal gewesen waren und was für Saufgelage sie früher veranstaltet hatten. Und sie wollte auch nicht hören, wie wunderbar Abstinenz war. Alle verkündeten das mit dem Ernst des reuigen Sünders nach einer tiefen religiösen Erfahrung.
    Ihr neuer Gott hieß Abstinenz, ein Gott, der ihnen jede Menge Zigaretten und schwarzen koffeinfreien Kaffee erlaubte. Sportliche Betätigung, das Trinken mehrerer Liter Wasser am Tag und die regelmäßigen Gespräche mit einem Mentor waren unerläßlich. Außerdem erwartete dieser Gott von dem Probanden, daß er mit jedem Kontakt aufnahm, den er jemals gekränkt hatte, und ihn um Verzeihung bat. Das bedeutete, daß Mrs. Brazil ihrem Sohn und allen, die sonst in Davidson mit ihr zu tun gehabt hatten, ihr Alkoholproblem gestehen mußte. Das hatte sie einmal einigen Studenten gegenüber versucht, die ihr beim ARA Slater Food Service, dem Essenslieferanten für die Cafeteria im neuen Commons Building, zugewiesen waren. »Ich war für einen Monat in Kur«, hatte Mrs. Brazil einer jungen Studentin namens Heather aus Connecticut gesagt. »Ich bin Alkoholikerin.«
    Denselben Versuch hatte sie bei Ron gemacht, einem Erstsemester aus Ashland, Virginia. Doch die erwartete Katharsis blieb aus. Die Studenten reagierten nicht wie erhofft und gingen ihr danach aus dem Weg. Nachdem entsprechende Gerüchte auf dem Campus kursierten, begegnete man ihr mit einer gewissen Furcht. Manche dieser Gerüchte kamen auch Brazil zu Ohren und verstärkten seine Scham. Und das wiederum trieb ihn noch tiefer in die Isolation. Er wußte, er würde nie Freunde gewinnen können, denn wenn er jemanden zu nah an sich heranließ, mußte die Wahrheit ans Licht kommen. Sogar West war damit konfrontiert worden, als sie ihn zum ersten Mal zu Hause angerufen hatte. Brazil war noch immer sehr erstaunt, fast überwältigt, daß dieses Ereignis den Deputy Chief in ihrer Meinung über ihn keineswegs beeinflußt zu haben schien.
    »Mom, was hältst du davon, wenn ich uns ein paar Eier brate?« Brazil war in der Tür stehengeblieben. Das Licht des Fernsehers flimmerte durch das dunkle Wohnzimmer.
    »Ich hab keinen Hunger«, sagte sie und starrte weiter auf den Bildschirm.
    »Was hast du denn gegessen? Wahrscheinlich gar nichts, stimmt's? Du weißt doch, wie schlecht das für dich ist, Mom.« Sie hielt die Hand mit der Fernbedienung ausgestreckt und wechselte zu einer anderen Sendung, in der Leute über schlechte Witze lachten.
    »Wie wär's mit gebackenem Käse?« schlug ihr Sohn vor.
    »Ja, vielleicht«, sagte sie und zappte weiter.
    In Gegenwart ihres Sohnes konnte sie kaum ruhig sitzen bleiben. Es fiel ihr schwer, ihm ins Gesicht zu sehen, seinen Blick zu ertragen. Je netter er zu ihr war, desto schlechter fühlte sie sich. Sie hatte nie begriffen, warum das so war. Ohne ihn würde sie nicht zurechtkommen. Er kaufte ein und hielt den Haushalt in Gang. Ihre Getränke finanzierte sie mit den Zahlungen der Sozialversicherung und der kleinen Pension, die sie vom Police Department erhielt. In letzter Zeit brauchte

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