Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hornisse

Die Hornisse

Titel: Die Hornisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
Vom Netzwerk:
Halstuch, das er sich um die Stirn gebunden hatte, damit ihm die Haare nicht in die Augen fielen. Die Typen hier trugen gigantische Bäuche vor sich her, hatten breite Schultern und erweckten den Eindruck, als trainierten sie mit Gabelstaplern und Bierkästen. Den Riesen-Trucks nach zu urteilen, die er auf dem Parkplatz gesehen hatte - auch Dreiachser waren dabei -, mußte es auf den Interstates 74 und 40 über steile Pässe und durch reißende Flüsse gehen. Brazil hatte mit diesem Männerschlag aus North Carolina, in dessen Nähe er aufgewachsen war, nie etwas anfangen können.
    Es war etwas jenseits von Biologie, Geschlechtsmerkmalen, Hormonen und Testosteron. Ein paar dieser rauhen Kerle hatten nackte Pinup-Girls auf die Spritzschutzkappen geklebt, die von den Kotflügeln ihrer Sattelschlepper herabhingen. Brazil fand das geradewegs abstoßend. Da sah ein Mann eine tolle Frau mit einem super Körper, und alles, was ihm dazu einfiel, war, sie dazu zu benutzen, seinen Karosserielack gegen Straßensplit zu schützen. Das war nichts für Brazil. Er ging mit einer Frau am liebsten ins Kino, fuhr mit ihr ins Drive-Through, und am liebsten betrachtete er sie im Kerzenlicht.
    Inzwischen hatte er eine Runde absolviert. Er tackerte eine neue Schablone mit menschlichen Umrissen auf den Karton und befestigte das Ziel am Rahmen seines Schießstandes. West als seine Ausbilderin prüfte die bisherigen Treffer ihres Schülers auf seiner letzten Zielscheibe. Die Figur wies in Brustmitte eine Reihe eng beieinanderliegender Einschüsse auf. West war verblüfft. Sie beobachtete, wie Brazil einen neuen Satz Patronen in das Magazin einer .380er Sig Sauer schob.
    »Sie sind ja gefährlich«, meinte sie.
    Er hielt die kleine Waffe mit beiden Händen, genau so, wie ihm das sein Vater beigebracht hatte, zu einer Zeit, an die er sich kaum noch erinnerte. Brazil war nicht schlecht in Form, aber man konnte noch was verbessern. Er schoß ein Magazin nach dem anderen leer. Das leere ließ er fallen, und schon rastete das nächste im Kolben ein. Er feuerte ohne Pause, als könne er nicht schnell genug jeden einzelnen ins Jenseits befördern, der ihm im Leben einmal etwas angetan hatte. In Wests Augen reichte das aber nicht. Sie wußte, was man brauchte, um auf der Straße zu überleben.
    Sie drückte auf einen Knopf, und die Figur auf dem Papier erwachte plötzlich zum Leben und kam quietschend an einem Drahtzug auf Brazil zu, als wolle sie ihn angreifen. Brazil nahm den Kampf auf. BUMM! BUMM! BUMM! Die Kugeln schlugen gegen den Metallrahmen der Zielscheibe und in die schwarze Gummiwand dahinter ein, dann war ihm die Munition ausgegangen. Die Zielscheibe stoppte und hing baumelnd an ihrem Seil vor Brazils Gesicht. »He! Was machen Sie da?« drehte er sich aufgebracht zu West um. Sie ließ ihn erst einmal zappeln und füllte die Magazine mit neuen Patronen. Dann schob sie eines mit einem Ruck in den Griff einer bedrohlich wirkenden, schwarzen .40er Smith&Wesson Halbautomatik. Jetzt erst sah sie ihren Schüler an.
    »Sie schießen zu schnell.« Sie zog den Verschlußschlitten zurück, ließ ihn nach vorn schnellen und visierte ihre Scheibe. »Ihnen ist die Munition ausgegangen.« BUMM-BUMM. »Und das Glück.« BUMM-BUMM.
    Eine kurze Unterbrechung, dann die nächsten zwei Schüsse. Sie legte ihre Waffe hin, trat dicht neben Brazil und nahm seine .380er, öffnete den Verschluß und vergewisserte sich, daß die Waffe ungeladen und sicher war. Dann zielte sie auf das Ende der Bahn. Hände und Arme stabil, die Knie leicht gebeugt, die korrekte Haltung. »Eins, zwei und stopp«, sagte sie und demonstrierte es ihm. »Eins, zwei und stopp. Sie sehen, was Ihr Gegenüber tut, und zielen erneut.« Sie gab ihm die .380er zurück, den Griff voraus. »Und rühren Sie den Abzug nicht an. Nehmen Sie sie mit nach Hause und üben Sie heute abend.«
    An jenem Abend blieb Brazil in seinem Zimmer und machte seine Trockenübungen mit Wests .380er, bis er eine dicke Blase am Zeigefinger hatte. Vor dem Spiegel zielte er auf sich selbst. Vielleicht gewöhnte er sich so an den Anblick einer auf ihn gerichteten Waffe. Dazu spielte er im Hintergrund Musik und ließ seinen Phantasien freien Lauf, sah in die kleine Mündung wie in ein schwarzes Auge, das auf seinen Kopf oder sein Herz gerichtet war. Er dachte an seinen Vater, der seine Waffe nicht gezogen hatte. Er hatte nicht einmal mehr Zeit gehabt, sein Funkgerät einzuschalten. Brazils Arme begannen zu zittern. Er hatte

Weitere Kostenlose Bücher