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Die Hornisse

Die Hornisse

Titel: Die Hornisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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waren doch am Unfallort!«
    »Man hatte sie in einen Streifenwagen gesetzt«, sagte er und blätterte seinen Block durch.
    »Dann hätten Sie eben an die Scheibe klopfen müssen«, zeterte Cutler. »Sie hätten die Tür öffnen müssen - eben Ihre Pflicht tun!« Brazil hörte auf zu tippen und sah zu der Frau auf, die ihm gewaltig auf die Nerven ging. Ihm war gleich, ob sie das auch merkte. »Das hätten Sie vielleicht gemacht«, sagte er.
    Als am nächsten Morgen um sechs Uhr die Zeitung auf seine Veranda segelte, war Brazil bereits auf. Er hatte ein Laufpensum von acht Kilometern auf der Bahn hinter sich, hatte geduscht und seine Polizeiuniform angezogen. Er öffnete die Tür, hob die Zeitung von der Schwelle auf und zog das Gummi ab, das sie zusammenhielt. Er wollte so schnell wie möglich sein Werk begutachten. Mit ärgerlichen Schritten ging er durch das triste Wohnzimmer in die enge, schmuddelige Küche, in der seine Mutter an einem Tisch mit Plastikdecke saß. Sie hielt eine Kaffeetasse in den zittrigen Händen und rauchte. Ausnahmsweise war sie einmal klar. Brazil knallte die Zeitung auf den Tisch. Auf Seite eins oben schrie ihm die Schlagzeile FÜNFKÖPFIGE FAMILIE IN AUTOUNFALL MIT POLIZEI GETÖTET entgegen. Großformatige Farbfotos zeigten verstreute Glassplitter, verbeultes Blech und die weinende Polizistin Michelle Johnson in einem Streifenwagen.
    »Das glaub ich einfach nicht!« rief Brazil laut. »Sieh dir das an. Diese verdammte Schlagzeile klingt so, als ob die Polizistin schuld sei. Dabei wissen wir noch gar nicht, wer den Unfall verursacht hat!«
    Aber seine Mutter interessierte das nicht weiter. Sie stand auf und ging langsam zur Fliegentür, die auf die Seitenveranda führte. Mit Schrecken sah ihr Sohn, wie sie schwankend einen Schlüsselbund vom Wandhaken nahm.
    »Wohin gehst du?« fragte er.
    »In den Laden.« Sie wühlte in ihrer großen alten Handtasche. »Ich war doch gestern erst noch dort«, sagte er. »Ich brauche Zigaretten.« Mit finsterem Blick sah sie ins Scheinfach ihres Portemonnaies.
    »Ich habe gerade erst eine Stange gekauft.« Brazil sah sie durchdringend an.
    Er wußte, wohin seine Mutter in Wirklichkeit wollte, und wieder überkam ihn die alte Niedergeschlagenheit, die ihm nur allzu bekannt war. Er seufzte frustriert, während seine Mutter ihre Scheine zählte und nach der Tasche griff. »Hast du einen Zehner?« fragte sie.
    »Ich werde dir nicht deinen Schnaps bezahlen.«
    Sie blieb an der Tür stehen und betrachtete ihr einziges Kind, das sie nie zu lieben gelernt hatte. »Wohin gehst du?« fragte sie mit einem grausamen Ausdruck in den Augen, der ihr Gesicht häßlich und fremd erscheinen ließ. »Auf ein Kostümfest?«
    »Zu einer Parade«, antwortete Brazil. »Ich regle den Verkehr.«
    »Parade, Scharade«, höhnte sie. »Du bist kein Polizist. Wirst nie einer werden. Warum gehst du da raus und willst dich umbringen lassen?« Ebenso unvermittelt, wie sie gemein geworden war, wurde sie nun traurig. »Soll ich denn ganz allein sterben?« Sie stieß die Tür auf.
    Aber der Morgen sollte noch schlimmer werden. Eine Viertelstunde lang kreiste Brazil auf dem Parkdeck des Police Departments herum und stellte seinen BMW schließlich auf einem Presseplatz ab, obwohl er nicht offiziell als Pressevertreter hier war. Das Wetter war herrlich, dennoch nahm er den Tunnel zum Erdgeschoß des PolizeiHauptquartiers. Ihm war ganz und gar nicht danach, vielen Menschen zu begegnen. Nach Auseinandersetzungen mit seiner Mutter wie dieser war er stets besonders in sich gekehrt. Er wollte allein sein und mit niemandem reden müssen. Am Schalter der Materialausgabe ließ er sich ein Walkie-Talkie und die Schlüssel zu einem Zivilfahrzeug geben. Er sollte in den Bezirk mit dem Code Charlie Zwei fahren, der zwischen der Tryon Street und dem Independence Boulevard lag. Hier wurde die jährliche Freiheitsparade abgehalten, eine eher bescheidene Veranstaltung, die von den Shriners, einer Gruppe Traditionalisten auf ihren Motorrollern und mit diesen quastengeschmückten Mützen auf den Köpfen, gesponsert wurde. Eine schlechtere Karre hätte man Brazil gar nicht zuteilen können. Der schwarze, verkratzte Ford Crown Victoria war ein schwerfälliges Vehikel, das seine hundertachtzigtausend Kilometer auf dem Buckel hatte. Das Getriebe konnte jeden Moment seinen Geist aufgeben, sofern das verdammte Ding überhaupt ansprang. Im Moment schien es eher abgeneigt. Noch einmal drehte Brazil den Zündschlüssel

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